Die Löwen
sah sie schon eine Gruppe von Sechsjährigen, die › Himmel und Hölle ‹ spielten, ein Spiel, bei dem eines der Kinder seine eigenen Zehen festhalten muss te, während es zwei andere in den › Himmel ‹ trugen – vorausgesetzt, es ließ seine Zehen nicht los, denn dann kam es in die › Hölle ‹ , und die war für gewöhnlich eine Abfallgrube oder eine Latrine. Mousa würde dieses Spiel nie wieder spielen können, erkannte Jane, und die Tragik, die sie empfand, drohte sie plötzlich zu überwältigen. Die Kinder bemerkten sie gleich darauf, und als sie vorbeiging, hörten sie auf zu spielen und starrten sie an. Eines der Kinder flüsterte: »Mousa.« Ein anderes wiederholte den Namen, und dann war der Bann gebrochen, und alle rannten los, an Jane vorbei, die Neuigkeit laut herausschreiend.
Das Tagesversteck der Bewohner von Banda sah aus wie ein Nomadenlager in der Wüste: staubiger Boden, sengende Mittagssonne, erloschene Feuerstellen, verhüllte Frauen, schmutzige Kinder. Jane ging über den kleinen, ebenen Platz vor den Höhlen. Die Frauen strömten bereits zu der größten Höhle, die Jane und Jean-Pierre in eine Art Lazarett verwandelt hatten. Jean-Pierre hörte den Tumult und trat heraus. Dankbar überließ Jane ihm Mousa und sagte auf französisch: »Es war eine Mine. Er hat die Hand verloren. Gib mir dein Hemd.«
Jean-Pierre trug Mousa in die Höhle und legte ihn auf den Teppich, der als Untersuchungstisch diente. Bevor er sich um das Kind kümmerte, zog er sein ausgebleichtes Kaki-Hemdkaki-Hemd aus und gab es Jane, die es rasch überstreifte.
Sie fühlte sich ein bisschen schwindlig. Am besten war’s wohl, wenn sie sich in den hinteren, kühleren Teil der Höhle setzte; doch nach wenigen Schritten besann sie sich anders und ließ sich sofort nieder. Jean-Pierre sagte: »Gib mir ein paar Tupfer.« Sie ignorierte ihn. Mousas Mutter, Halima, kam in die Höhle gestürzt und begann gellend zu schreien, sobald sie ihren Sohn erblickte. Ich sollte sie beruhigen, damit sie das Kind trösten kann; warum bloß komme ich nicht hoch? Am besten, ich mache die Augen zu.
Nur für eine Minute.
Bei Einbruch der Nacht wusste Jane, dass sich ihr Baby ankündigte.
Als sie nach dem Ohnmachtsanfall in der Höhle wieder zu sich kam, hatte sie Schmerzen - Rückenschmerzen, wie sie glaubte, verursacht durch das Tragen von Mousa. Jean-Pierre stimmte ihrer Diagnose zu, gab ihr ein Aspirin und verordnete strengste Ruhe.
Raiba, die Hebamme, kam in die Höhle, um nach Mousa zu sehen, und musterte Jane eindringlich. Zu diesem Zeitpunkt jedoch begriff sie gar nicht, was das zu bedeuten hatte. Jean-Pierre säuberte und verband Mousas Armstumpf, gab ihm Penicillin und auch eine Spritze gegen Tetanus. An einer Infektion würde das Kind nicht sterben, was ohne westliche Medizin fast sicher der Fall gewesen wäre; aber Jane fragte sich unwillkürlich, wie sein Leben künftig aussehen mochte - selbst für die Gesündesten war das Überleben hier schwer, und verkrüppelte Kinder starben meist in jungen Jahren.
Am späten Nachmittag machte sich Jean-Pierre zum Aufbruch bereit. Er sollte am folgenden Tag in einem etliche Kilometer entfernten Dorf Patienten ambulant behandeln, und bei solchen Anlässen war er - aus irgendeinem Grund, den Jane nie ganz verstand -
von geradezu pedantischer Pünktlichkeit, obwohl er genau wusste , dass es keinen einzigen Afghanen überrascht hätte, wenn er einen Tag oder sogar eine Woche später käme.
Als er Jane zum Abschied küsste , hatte sie bereits angefangen sich zu fragen, ob es sich bei den Rückenschmerzen nicht um die ersten Wehen handelte, die nach der Schlepperei mit Mousa zu früh einsetzten; doch da es ihr erstes Baby war, besaß sie damit keinerlei Erfahrung, und es schien auch unwahrscheinlich. Sie fragte Jean-Pierre. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er aufmunternd. »Du muss t noch weitere sechs Wochen warten.« Sie fragte ihn, ob es nicht besser wäre, wenn er hierbliebe, nur für alle Fälle; doch das hielt er in gar keiner Weise für notwendig, und allmählich kam sie sich albern vor. So ließ sie ihn denn ziehen, Medikamente und sonstige Utensilien auf einem mageren Pony, damit er noch vor der hereinbrechenden Dunkelheit sein Ziel erreichen und gleich am nächsten Morgen mit seiner Arbeit beginnen konnte.
Als die Sonne hinter den westlichen Felswänden zu verschwinden begann und das Tal ganz im Schatten lag, ging Jane mit den Frauen und den Kindern hinunter ins
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