Die Löwen
Flüssigkeit zwischen ihren Beinen herablief, der ihre Hosen vollkommen durchtränkte: Das Fruchtwasser war abgegangen.
»O nein«, stöhnte sie. Sie lehnte sich gegen den Türpfosten. Ihre Hosen schienen ins Rutschen zu geraten, sie würde keine drei Meter mehr gehen können. Sie fühlte sich gedemütigt. »Du muss t «, sagte sie sich; doch dann kam die nächste Wehe, und sie sank zu Boden und dachte: Ich muss damit allein fertig werden.
Als sie die Augen wieder öffnete, war ein Männergesicht dicht vor ihrem eigenen. Er sah aus wie ein arabischer Scheich: dunkelbraune Haut, schwarze Augen, schwarzer Schnurrbart, aristokratische Züge - hohe Wangenknochen, Adlernase, weiße Zähne, langer Unterkiefer. Es war Mohammed Khan, der Vater von Mousa.
»Gott sei Dank«, murmelte Jane undeutlich.
»Ich bin gekommen, um dir dafür zu danken, dass du das Leben meines Sohnes gerettet hast«, sagte Mohammed in der Dari-Sprache. »Bist du krank?«
»Ich bekomme ein Kind.«
»Jetzt?« fragte er perplex.
»Bald. Hilf mir ins Haus.«
Er zögerte - eine Niederkunft galt, wie alles, das ausschließlich Frauen betraf, als unrein -
doch er zögerte nur einen kurzen Augenblick. Dann half er ihr beim Aufstehen und stützte sie, als sie durch das Wohnzimmer ins Schlafzimmer ging. Dort legte sie sich wieder auf den Teppich. »Hol Hilfe«, sagte sie zu ihm.
Er krauste die Stirn, unschlüssig, was er tun sollte; und wirkte dabei eigentümlich knabenhaft hübsch. »Wo ist Jean-Pierre?«
»Nach Khawak. Ich brauche Rabia.«
»Ja«, sagte er. »Ich werde meine Frau schicken.«
»Bevor du gehst…« - »Ja?«
»Bitte, gib mir etwas Wasser.«
Er sah schockiert aus. Ein Mann, der eine Frau bediente, und sei es auch lediglich mit einem Schluck Wasser - das war undenkbar.
Jane fügte hinzu: »Aus dem speziellen Behälter.« Sie hatte stets ein Gefäß mit abgekochtem, gefiltertem Trinkwasser bereitstehen; nur auf diese Weise konnte man sich vor den zahlreichen Darmparasiten schützen, unter denen fast alle Einheimischen ihr Leben lang litten.
Mohammed entschied sich, gegen die Konvention zu verstoßen. »Natürlich«, sagte er. Er ging ins Nebenzimmer und kehrte kurz darauf mit einem Becher voll Wasser zurück. Jane dankte ihm und nippte zufrieden daran.
»Ich werde Halima schicken, um die Hebamme zu holen«, sagte er.
Halima war seine Frau. »Danke«, erwiderte Jane. »Sag ihr, sie möge sich beeilen.«
Mohammed verschwand. Jane hatte Glück, dass er es war und keiner der anderen Männer. Die anderen hätten sich geweigert, eine kranke Frau auch nur zu berühren, doch Mohammed unterschied sich von ihnen. Er war einer der wichtigsten Guerillas und praktisch der örtliche Stellvertreter des Rebellenführers Masud. Mohammed war erst vierundzwanzig, doch in diesem Land war das ja nicht zu jung, um schon Guerillaführer zu sein und einen neunjährigen Sohn zu haben. Er hatte in Kabul studiert, sprach ein wenig Französisch und wusste , dass die Sitten hier im Tal nicht die einzig denkbare Form gesellschaftlichen Verhaltens auf der Welt waren. Seine Hauptaufgabe bestand darin, Konvois von und nach Pakistan zu organisieren, den Nachschub von Waffen und Munition für die Aufständischen. Ein solcher Konvoi war es auch gewesen, mit dem Jane und Jean-Pierre in dieses Tal gekommen waren.
Jane rief sich die schreckliche Reise ins Gedächtnis zurück, während sie auf die nächste Kontraktion wartete. Sie hatte sich für gesund, sportlich und kräftig gehalten, für ausdauernd genug, den ganzen Tag zu Fuß zu gehen; doch sie hatte nicht mit dem knappen Proviant, den steilen Steigungen, den rauen , steinigen Pfaden und der kräftezehrenden Diarrhöe gerechnet. Streckenweise waren sie ausschließlich nachts weitergezogen, aus Angst vor russischen Hubschraubern. Hie und da hatten sie es auch mit feindseligen Dörflern zu tun: Diese befürchteten, der Konvoi könne einen russischen Angriff auf sich ziehen, und weigerten sich, den Guerillas Lebensmittel zu verkaufen; oder sie versteckten sich hinter versperrten Türen; mitunter wiesen sie dem Konvoi den Weg zu einer Wiese oder einer Obstpflanzung, nur wenige Kilometer entfernt, angeblich ideale Lagerplätze, die dann jedoch gar nicht existierten.
Der russischen Angriffe wegen änderte Mohammed ständig die Route. Jean-Pierre hatte in Paris amerikanische Landkarten von Afghanistan aufgetrieben, die besser waren als die der Aufständischen, sodass Mohammed oft ins Haus kam, um die Landkarten zu
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