Die Löwin aus Cinque Terre: Laura Gottbergs dritter Fall
die frische Luft ein, die ein wenig zu warm für die Jahreszeit war, schaute über den knappen Ausschnitt von Siena, den die gegenüberliegende Mauer freiließ.
Vor genau drei Monaten hatte er Laura Gottberg zum letzten Mal gesehen. Natürlich, sie telefonierten regelmäßig, schrieben sich sogar, schickten manchmal besprochene Tonbänder – trotzdem war es wie ein langsames Verhungern. Lag es an ihm? Schließlich hatte er genügend zu tun. Wohnte in einer wunderbaren Stadt, hatte Freunde, Verwandte, seinen verrückten Vater. Hatte auch vor der Begegnung mit ihr gelebt, ohne zu verhungern, oder?
Er nahm sich vor, am Wochenende sein Rennrad zu polieren und wie jeden Frühling übers Land zu fahren. Die kleine Spinne seilte sich genau vor seiner Nase ab und schaukelte hin und her, als genieße sie es. Nein, eigentlich hatte er überhaupt keine Lust, allein durch die Gegend zu radeln. Wenn er sich selbst gegenüber ganz ehrlich war, wollte er nach München fahren und Laura sehen – samt ihren Kindern und allem, was sie ausmachte. Es war an der Zeit. Er hatte lange genug gewartet.
Eine Taube flog genau auf ihn zu, drehte knapp vor dem Fenster ab, mit knatternden Flügelschlägen. Für den Bruchteil einer Sekunde tauschte Guerrini einen Blick mit dem Vogel, spürte einen Windhauch. Die kleine Spinne schaukelte heftiger.
«Commissario?»
Guerrini wandte den Kopf. Auf der Türschwelle stand Sergente Tommasini, halb drinnen, halb draußen.
«Si!»
«Werden wir im Fall der Signora Malenchini ermitteln?»
Behutsam schloss Guerrini das Fenster und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück, hatte das «wir» registriert, mit dem Tommasini diesen «Fall» zu seinem erklärte.
«Ich weiß nicht», entgegnete er deshalb langsam, um Tommasini hinzuhalten. «Der Arzt hat festgestellt, dass die alte Dame einem Herzanfall erlegen ist. Keinerlei Hinweise auf irgendeine Gewaltanwendung. Sie war immerhin schon siebenundachtzig …»
«Ja, natürlich, Commissario!»
Tommasini war zwölf Jahre jünger als Guerrini, gerade sechsunddreißig geworden, doch ein seltsam müder Zug in seinem Gesicht ließ ihn älter erscheinen. Bisher hatte Guerrini nicht herausgefunden, was die Ursache für diesen müden Zug war – nur eine ungefähre Ahnung brachte ihn mit Tommasinis Neigung in Zusammenhang, den Mitmenschen schlichtweg alles zuzutrauen und vom Leben nicht viel zu erwarten. Eine sehr toskanische Eigenschaft übrigens, geschichtsbedingt vermutlich. Deshalb wartete der Commissario auf den nächsten Satz seines Mitarbeiters.
«Es ist nur …», fuhr Tommasini fort und schaute dabei fest auf den Boden, «… die Aussage der Nachbarn der verblichenen Signora Malenchini erscheint mir bedenkenswert. Es gibt ja die merkwürdigsten Dinge in diesem Leben!»
Guerrini unterdrückte ein Lächeln. «Ja natürlich. Was genau meinst du eigentlich?»
Tommasini lehnte sich an den Türstock und schien mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand die etwas schütteren Haare über seiner Stirn zu erforschen. «Ich weiß nicht, ob Sie die Anzeige der Nachbarn gelesen haben, Commissario. Die sagt nicht viel aus, äußert nur einen vagen Verdacht. Aber ich habe schon mit den Leuten gesprochen. Es ist ein sehr gediegenes Ehepaar, und ich finde, Sie sollten sich ebenfalls anhören, was die beiden zu sagen haben, Commissario!»
«Kannst du es mir denn nicht erzählen, Tommasini?»
Der Sergente schüttelte den Kopf. «Nein, das geht nicht! Die Sache ist zu kompliziert.»
Wieder musste Guerrini den Kopf senken, um sein Lächeln zu verbergen. Diese Art von Dialogen hatten er und Tommasini schon viele Male geführt. Sie gehörten zu ihren Ritualen wie die Tatsache, dass Tommasini den Commissario siezte und Guerrini ihn duzte. Der Sergente bestand nachdrücklich auf beidem.
«Also, bestell die Leute her», sagte Guerrini deshalb entschlossen und wusste bereits, wie die Antwort lauten würde.
Sergente Tommasini richtete sich erleichtert auf und nickte dem Commissario zu. «Sie warten schon draußen. Sind freiwillig hergekommen, weil sie sich ehrliche Sorgen machen.»
«Dann lass die Leute rein, Sergente!»
Es kostete Guerrini ziemliche Anstrengung, ernst zu bleiben, denn er glaubte Tommasini kein Wort. Mit Sicherheit hatte der Sergente persönlich die Nachbarn der bedauernswerten Signora Malenchini in die Questura zitiert. Guerrini wartete. Draußen vor der Tür erklang Tommasinis bedeutungsvolles Murmeln, dann erschien der Sergente wieder, diesmal rückwärts
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