Die Löwin aus Cinque Terre: Laura Gottbergs dritter Fall
Seite. Ich kann ihren Kopf nicht drehen, da die Leichenstarre dies unmöglich macht.»
«Jaja», murmelte Laura, umrundete hinter Reiss die Bahre, dachte plötzlich an Roberto Malenges Worte: Meine Löwin … Auch Mörder hatten schon ähnliche Worte für ihre Opfer benutzt – eifersüchtige Liebhaber zum Beispiel, nachdem sie ihre Geliebte umgebracht hatten.
«Sehen Sie!» Beinahe triumphierend wies der Mediziner auf die schwarze gezackte Wunde an Valerias linker Schläfe, die sich ebenfalls bis unter ihr dichtes Haar zog. «Da ist sie aufgeprallt, deshalb ist die Haut geplatzt! Und jetzt sind Sie dran, Frau Hauptkommissarin.»
«Danke!» Laura nickte ihm zu. «Könnten Sie mich ein paar Minuten mit ihr allein lassen? Ich möchte all das einfach auf mich wirken lassen und sie ansehen.»
Reiss lächelte und legte kurz seine Hand auf Lauras Schulter. «Sie sind auch eine von den wenigen, die wissen, dass Tote sprechen können – nicht wahr? Ich habe diese Erfahrung unzählige Male gemacht. Man muss sich nur darauf einlassen. Die meisten Menschen fürchten sich davor. Selbst die Profis. Eigenartig, nicht wahr?»
Laura antwortete nicht, wartete nur, bis er den Raum verlassen hatte. Ganz still blieb sie neben Valeria Cabun stehen, erst an ihrer linken Seite, dann wechselte sie zur rechten, weil die ihr unversehrter erschien. Wieder fiel Laura das ausgeprägte Profil der jungen Frau auf. Etwas Wildes, vielleicht auch Hochmütiges oder zumindest sehr Stolzes ging von ihr aus. Selbst im Tod hielt sie das Kinn ein wenig hochgereckt, die kräftigen dunklen Brauen leicht gerunzelt und sah aus, als hätte sie gerade ihr Haar mit einer schnellen Kopfbewegung nach hinten geworfen.
Die Löwin, dachte Laura. Sie wirkt kein bisschen wie jemand, der an einer Depression leidet und deshalb aus dem Fenster springt. Sie wirkt eher wie eine Kämpferin, eine Löwin eben. Roberto Malenge hatte ganz Recht.
«ICH WAR immer dagegen, dass du als Au-pair-Mädchen ins Ausland gehst! Kannst du dich erinnern? Du hättest mich damals am liebsten umgebracht!» Der alte Emilio Gottberg nickte heftig. «Du wolltest unbedingt nach Paris! Deine Mutter hätte es beinahe erlaubt, aber ich habe gesagt: Nur über meine Leiche! Paris ist voller Franzosen, und du warst knappe neunzehn. Wahrscheinlich wärst du mit Drillingen zurückgekommen – wenn überhaupt!»
Laura Gottberg sah ihrem Vater zu, wie er die Wärmetöpfe seines Mittagessens inspizierte, das ihm kurz zuvor geliefert worden war. Jetzt knallte er einen der Deckel wieder auf den Topf und fixierte seine Tochter angriffslustig.
«Warum sagst du nichts? Bist du stumm?»
«Du hattest Recht!»
«Was?» Er starrte sie mit halb offenem Mund an. «Sag das nochmal!»
«Du hattest Recht, Vater!»
«Wie kommst du denn darauf?»
«Ganz einfach – ich habe inzwischen selbst eine Tochter, und ich würde sie nicht in irgendeine Familie irgendwo auf der Welt schicken, um dort in irgendwelche unklaren Situationen zu geraten.»
«Es liegt also nicht nur an dem Fall, den du gerade bearbeitest?» Der alte Gottberg war noch immer misstrauisch.
«Nein. Ich weiß aus meiner eigenen Lebenserfahrung, dass ich mit siebzehn oder achtzehn einfach nicht genug gewusst hätte, um einigermaßen sicher zu sein.»
«Danke!»
«Wofür?»
«Für meine Rehabilitierung als autoritärer Vater!»
«Ach, du mit deinem Talent für Dramatik. Du bist doch schon lange rehabilitiert, oder?»
«Na ja, dieses Zeug hier kann man übrigens nicht essen. Die haben wieder diese ekelhafte braune Sauce über alles gekippt. Wie wär’s, wenn ich dich zum Italiener um die Ecke einlade. Die Sonne scheint, es ist Frühling, und wir könnten unsere Reise in die Toskana planen.»
«Ich hab nicht viel Zeit, Vater …»
«Das hast du nie!», unterbrach der alte Gottberg seine Tochter. «Eine Stunde – mehr nicht!» Er sah sie bittend und ein wenig verschmitzt an. Und Laura dachte, dass er trotz seines Alters noch immer ein sehr charmanter Mann war.
«Eine Stunde», erwiderte sie lächelnd. «Aber keine Minute länger.»
«Nein, selbstverständlich nicht, Frau Hauptkommissarin!» Er salutierte und zwinkerte ihr zu.
Es wurden beinahe zwei Stunden in einer windgeschützten Ecke des kleinen italienischen Restaurants in der Osterwaldstraße. Sie schlemmten gegrillte Seezungen, Rosmarinkartoffeln, gedünstete Tomaten. Die Aprilsonne wärmte, und Laura hätte gern die Zeit vergessen, doch kurz vor zwei Uhr meldete sich Peter Baumann
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