Die Löwin aus Cinque Terre: Laura Gottbergs dritter Fall
unter das Dach der Kirche zurückzukehren. Doch Roberto Cabun hatte den Pfarrer angefleht und zum Schluss damit gedroht, dass kein Mitglied der Familie Cabun jemals wieder seine Kirche betreten würde, wenn Valeria nicht halbwegs angemessen aufgebahrt werde. Es gab viele Cabuns, auch wenn sie nicht alle so hießen, und der Pfarrer sah bereits all die leeren Plätze im Kirchenschiff vor sich, deshalb hatte er den kleinen Raum neben der Sakristei zur Verfügung gestellt.
Der Sarg war in einem Meer aus Lilien und Rosen kaum zu sehen, und Pfarrer Giovanni konnte den süßlichen Geruch der welkenden Blüten kaum noch ertragen. Die Beerdigung hatte er auf den Dienstagmorgen nach Ostern festgesetzt und zugesagt, dass er Valeria segnen würde. Die Reden aber müssten die anderen halten. Er war schließlich ein Mann der Kirche und konnte sich nicht einfach über alle Regeln hinwegsetzen. Hatte er nicht ohnehin schon genug getan? Für jemanden, der selten in die Kirche kam, wie die meisten jungen Leute! Er hatte genug getan, ganz sicher, fühlte sich aber mit jedem Blumenstrauß, der für Valeria niedergelegt wurde, mehr und mehr beunruhigt. Es kamen sogar Leute aus den Nachbargemeinden, die er noch nie in Riomaggiore gesehen hatte. Man konnte die Kammer, in der Valerias Sarg stand, nicht mehr betreten, so voll war sie von Blumen und Kerzen.
Nur noch ein Tag, dachte der Priester. Ein Tag, dann ist es vorbei. Es gab nur noch eines, wovor er sich fürchtete, das war die Begegnung mit der alten Maria Valeria Cabun. Irgendwie war er sicher, dass sie früher als Hexe verbrannt worden wäre. Er hoffte, dass sie nicht kommen würde, denn sie war in der letzten Zeit sehr gebrechlich geworden. Nach dem Tod ihrer Enkelin hatte er immerhin zweimal versucht, ihr Trost zu spenden. Doch sie hatte die Tür nicht aufgemacht. Obwohl seine Vorstellungskraft im Allgemeinen nicht sehr ausgeprägt war, war er sicher, dass alle diese seltsamen Vorkommnisse mit der Geschichte um Claretta Cabun zu tun hatten. Er kannte die Geschichte nicht genau, die Frauen sprachen nicht mit ihm darüber. Aber Claretta musste eine Hexe gewesen sein! Manche Männer bekreuzigten sich, wenn man von ihr sprach.
Als deshalb am Ostermontag gegen Mittag – er wollte gerade ins Pfarrhaus gehen, um zu essen und danach etwas zu ruhen – unvermutet die alte Maria Valeria vor ihm stand, erschrak er so sehr, dass sein Herz beinahe aussetzte.
«Buon giorno, prete», sagte sie und zog das schwarze Wolltuch enger um ihre Schultern. «Ich will meine Enkelin sehen.»
«Aber das geht nicht, Signora Cabun! Der Sarg ist geschlossen, und in der Kammer sind so viele Blumen, dass man nicht hineinkann.»
«Ich muss sie aber sehen. Helfen Sie mir, die Blumen herauszutragen!»
«Es geht trotzdem nicht, Signora! Ihre Enkelin ist seit beinahe zehn Tagen tot. Wenn Sie den Sarg aufmachen, dann … ist es sicher ein entsetzlicher Anblick, Signora!»
«Gehen Sie aus dem Weg!» Maria Valeria Cabun richtete ihre durchdringenden Augen auf den Priester und machte einen Schritt auf ihn zu. Er hatte keine Erfahrung mit Hexen, deshalb trat er zur Seite und half der alten Frau sogar, die Blumengebinde herauszutragen. Als sie sich zum Sarg vorgearbeitet hatten, versuchte er noch einmal, Maria Valeria von ihrem Vorhaben abzubringen. Sie schnitt ihm jedoch mit einer knappen Handbewegung das Wort ab.
Jetzt blieb ihm nur noch die Hoffnung, dass der Sarg versiegelt war, doch er war es nicht, und der Deckel ließ sich erstaunlich leicht anheben. Vermutlich hatten die Zollbeamten nachgesehen, ob wirklich eine junge Frau in dem Sarg lag und nicht hundert Kilo Heroin.
Der Priester wandte den Blick ab, schaute an seiner schwarzen Soutane herunter, entdeckte zwei verwaschene Flecken, die ihn irgendwie beruhigten. Die Flecken erschienen ihm wirklicher als dieser Sarg und die alte Frau mit ihren Raubvogelaugen.
«Gehen Sie, prete. Gehen Sie!» Sie scheuchte ihn geradezu hinaus, und er floh, obwohl er sich nicht gut dabei fühlte und den Eindruck hatte zu versagen.
Die alte Frau aber klappte den Sargdeckel zurück und legte ihre Hand über die gefalteten Hände ihrer Enkelin. Schön wie Schneewittchen lag Valeria auf einem weißen Seidenkissen, das schwarze Haar ausgebreitet. Ein stechender Schmerz durchfuhr das Herz ihrer Großmutter, und sie flehte alle Heiligen und die Mutter Maria um ein Wunder an, wollte der Enkelin ihr eigenes Leben einhauchen, sich an ihrer Stelle in diesen Sarg legen.
Doch es
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