Die Loewin von Mogador
Befestigungsmauern aus Lehm und
Bruchsteinen, die Ställe, Speicher und Wirtschaftsgebäude erinnerten ihn an
einen Tighremt, eine Wohnburg, wie sie auch die Chiadma benutzten: Ein
abgeschlossener Kosmos, der gut gegen Feinde verteidigt werden konnte. In den Wohngebäuden
jedoch fand er die farbenfrohe Üppigkeit arabischer Architektur – oder was
davon noch übrig war.
Bei näherer Besichtigung nämlich stellte er
fest, dass der einstige Glanz des Palastes der Schönheit verblichen war, aber
das minderte seine Begeisterung nicht. Wind, Hitze und Kälte hatten die
Lehmmauern zerfressen. Das hohe zweiflüglige Tor aus massivem Zedernholz war
verwittert und hing schief in den Angeln, wilde Tiere hatten die Gebäude in
Besitz genommen. Als André die Ställe an der Innenseite der Begrenzungsmauern
in Augenschein nahm, scheuchte er eine Schakalfamilie auf. Unter den Dachbalken
nisteten Schwalben und Sperlinge, und in den beiden Wachtürmen rechts und links
des Tores lebten verwilderte Tauben.
Als er die Gemächer des ehemaligen Hausherrn
und seines Hofstaates betrat, stellte er fest, dass Mäuse in der aufgerissenen
Polsterung zurückgelassener Kissen und Sofas hausten. In einem Raum stolperte
er über einen zerborstenen Leuchter, der aus der Decke gebrochen war, in
anderen fand er mottenzerfressene Teppiche. Die Bodenfliesen waren gesprungen,
auf dem Dach fehlte an etlichen Stellen die Bedeckung. Es gab viel zu tun, aber
seine Freunde von den Chiadma würden ihm helfen.
André war die einzige Menschenseele hier.
Doch die Einsamkeit gefiel ihm. Er richtete sich einen Schlafplatz bei seinem
Pferd im Stall ein und wachte mitten in der Nacht auf, weil draußen ein
Raubtier knurrend und fauchend um die Mauern strich. Aber auch das schreckte
ihn nicht. Er war glücklich und voller Pläne für die Zukunft.
Am nächsten Morgen sattelte er seine Stute
und durchstreifte das Gelände. Bienen summten zwischen Klatschmohn und Disteln.
Er entdeckte verwilderte Rosen und wuchernde Bougainvillea. Es gab sogar noch
einen Olivenhain und die Reste von Wasserbecken. In der Mitte des Hofes stand
das Wahrzeichen von Qasr el Bahia, eine prachtvolle Atlaszeder. Er wollte
terrassenförmige Felder anlegen, damit die Safrankrokusse viel Sonnenlicht
bekamen. Dazwischen würde er Granatapfelbäume pflanzen, aus deren Saft ein in
Teppichmanufakturen begehrter Farbstoff gewonnen wurde, und einen neuen
Blumengarten würde er außerdem anlegen. Oder noch besser: Er würde Sibylla
bitten, das zu tun, um ihr zu zeigen, dass Qasr el Bahia auch ihr Heim war.
Als er gegen Mittag zu den Wohngebäuden
zurückritt, begegnete er zwei mageren zerlumpten Hirtenjungen, die ihre
Ziegenherde über das Gelände trieben und ihn misstrauisch musterten. Der
Größere, den ein auffallendes Feuermal kennzeichnete, das vom linken Auge quer
über sein Gesicht lief, starrte ihm feindselig entgegen, einen Gesteinsbrocken
in der Faust. Aber als André sein Gewehr gut sichtbar vor den Sattel legte,
ließ er den Stein fallen. André begrüßte sie, erst auf Arabisch, und als sie
nicht reagierten, auf Tachelhit, einer Berbersprache, die vor allem südlich von
Mogador verbreitet war. Jetzt antwortete der mit dem Feuermal, dass sie zu den Ait
Zelten gehörten, einem Clan der Haha – jenes Stammes, der nach der
Bombardierung der Franzosen Mogador geplündert hatte.
André hielt es für klug, die
Besitzverhältnisse von Beginn an zu klären. „Seine kaiserliche Majestät Moulay
Abd Er Rahman, der Herrscher dieses Landes, hat mir Qasr el Bahia zum Geschenk
gemacht. Geht und sagt eurem Scheich, dass Qasr el Bahia nun André Rouston
gehört, und richtet ihm auch aus, dass ich mich freue, mit ihm die Shisha zu
rauchen.“
„Dieses Land gehörte immer meinem Volk, bis
der Sultan es uns stahl. Er hat kein Recht, es zu verschenken!“, erklärte der
Junge böse, und der Kleinere wandte ein: „Wo sollen unsere Ziegen jetzt Futter
finden?“
André beschrieb mit einem Arm einen weiten
Kreis. „Es gibt genug Land für sie rings um das Gut. Außerdem brauche ich viele
tüchtige Hände, die mir helfen, Qasr el Bahia wieder aufzubauen. Von dem Geld,
das ich zahle, kann euer Scheich Futter und Nahrungsmittel kaufen.“
„Die Ait Zelten sind keine verfluchten
Sklaven!“ Der Ältere spuckte vor André aus. Er winkte dem Jüngeren, und die
beiden zogen mit ihrer Herde weiter.
Mogador im Juni 1840
Kurz vor dem Abendessen saß Sibylla am Tisch
in ihrem Salon. Sie wollte einen
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