Die Loewin von Mogador
Zimmer. Als sie sich der Tür näherte hörte sie Andrés Stimme.
„Wieso darfst du mich nicht hereinlassen? Was soll der Unsinn? Mach die Tür
auf!“
„Es tut mir leid, Herr. Aber das darf ich
nicht“, antwortete der Torwächter. „Die Herrin hat es verboten.“
Er wollte die Luke zuklappen, doch André
stemmte sich blitzschnell dagegen. „Den Teufel werde ich tun!“, schnaubte er.
„Lass mich zu ihr, wenn du nicht willst, dass die ganze Straße hört, dass ich
hier bin!“
Was fiel diesem Mann ein! Erst stahl er ihr
Herz, dann trampelte er darauf herum, und nun besaß er noch die Stirn, hier
aufzutauchen und sie zu belästigen! Brüsk schob Sibylla Hamid beiseite und
blickte direkt in Andrés Gesicht. Schrecklich schlecht sah er aus, unrasiert
und blass.
„Sibylla!“ Er flehte: „Lass mich ein, bitte,
Liebste! Ich muss mit dir reden!“
Er wirkte so am Boden zerstört, dass es ihr
fast das Herz brach. Aber dann drängten sich wieder die Bilder von Qasr el
Bahia in ihre Erinnerung, wie er auf dem Hof vor ihr gestanden hatte, voll des
schlechten Gewissens. Und schließlich der schreckliche Moment, als sie begriff,
dass er aus den Armen einer anderen kam. Und diese Frau, die die Bezeichnung
„Frau“ noch gar nicht verdiente, hatte Sibylla im vollen Bewusstsein ihrer
Jugend und Schönheit beleidigt, während André wie ein Dummkopf dabeigestanden
und nichts unternommen hatte!
„Ich
will weder mit dir reden noch dich sehen!“, fauchte sie. „Geh doch zurück zu
deinem, deinem…“ Berberflittchen, wollte sie sagen. Aber sie schluckte das Wort
herunter und knallte die Luke zu.
Teil
2
Das
rote Gold des Maghreb
1859
bis 1862
Wer
nie jagte, nie liebte, nie den Duft einer Blume suchte und nie beim Klang der
Musik erbebte, der ist kein Mensch, sondern ein Esel. (Arabisches Sprichwort)
Kapitel
zwanzig - London im Oktober 1859
Sieben Mal hallte der dunkle Glockenschlag
von Big Ben über das abendliche London. Dichter Regen fiel vom pechschwarzen
Oktoberhimmel und prasselte geräuschvoll auf das nasse Laub, das den Gehweg vor
den schmiedeeisernen Gittern des Victoria Gate am südöstlichen Hyde Park
bedeckte.
Genau gegenüber, nur durch die Piccadilly
Street getrennt, lag Spencer House, die eindrucksvolle dreistöckige Villa, die
Oscar Spencer, Eigentümer der Reederei Spencer & Sohn, mit seiner Familie
bewohnte. Gerade fuhr wieder ein Landauer vor. Butler rannten mit aufgespannten
Schirmen zum Wagenschlag, um die Gäste durch das majestätische Säulenportal ins
Warme zu geleiten, während der Kutscher den Wagen ans Ende der langen Reihe am
Trottoir lenkte.
Die mannshohen Sprossenfenster der ersten
Etage waren hell erleuchtet. Dort befand sich der Saal. Festlich gekleidete
Herren in dunklem Frack mit weißer Hemdbrust oder in Uniform füllten bereits
den Raum. Die Damen in ihren duftigen Ballroben flatterten wie Paradiesvögel
hin und her. Ihr Schmuck glitzerte im Licht der Kristalllüster und vergoldeten
Spiegel an der anderen Längswand, das Orchester spielte Walzer, und livrierte
Diener boten Champagner an.
Oscar Spencer stand in einer Gruppe bei einem
der Fenster. Gut gelaunt winkte er einen Diener heran, und alle nahmen sich
Gläser.
„Bevor dieses Fest zu Ehren deines Erfolges
beginnt, möchte ich noch einmal ganz privat mit dir, mein lieber Neffe und mit
meiner Familie anstoßen“, erklärte er feierlich und hob sein Glas. „Thomas, von
heute an bist du ein fertig ausgebildeter Arzt! Möge deine Kunst stets zum
Wohle der Menschen beitragen!“
Der hochgewachsene junge Mann im schwarzen
Talar neigte zum Dank den Kopf. Dabei fiel ihm die Quaste des Doktorhutes in
die Stirn. Sein Bruder John, genauso groß und blond wie er, zog scherzhaft
daran. „Hoffentlich wirst du jetzt nicht eingebildet!“
„Da passe ich schon auf“, mischte sich ein
weiterer Mann ein. Er war im Alter der Brüder und von schlanker athletischer
Statur. Seine bronzefarbene Haut, der kurze schwarze Bart an Wangen und Kinn
und der graue Turban, den er zum Frack trug, wiesen ihn als Araber aus.
Thomas grinste. „Das glaube ich dir aufs
Wort, bin Abdul. Ich freue mich schon darauf, mit dir in Mogador zu
praktizieren!“
Sabri bin Abdul und Thomas Hopkins waren
beste Freunde, seit sie als Kinder am Strand zusammen hatten Drachen steigen
lassen. Später hatten sie beide Medizin studiert, Tom in London und Sabri an
der berühmten Qarawiyin-Universität von Fès. Die letzten zwei Jahre hatten sie
zusammen am
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