Die Loewin von Mogador
Leder
der schlecht genährten Tiere an Geschmeidigkeit und Dicke zu wünschen übrig,
obwohl die Gerber in Fès ihr Bestes taten, wenn sie die Häute bearbeiteten. Das
wusste Sibylla.
„Also, fangen wir an, zu zählen!“, entschied
sie. Langsam fuhr sie mit dem Zeigefinger den Stapel hinunter, während der
Schreiber geduldig mit Stift und Klemmbrett neben ihr wartete.
„Dreihundertfünfzig Stück für Champion &
Wilton, London“, sagte sie über ihre Schulter zu Aladdin. Kein Sack Getreide,
kein Stück Leder, keine einzige Straußenfeder durfte das Land verlassen, ohne
dass zuvor ein Simsar des Kaids die von den Kaufleuten erstellten Ausfuhrlisten
geprüft hatte. Später errechnete er auf dieser Grundlage Ausfuhrzölle und
Steuern - eine zuverlässige Einnahmequelle für die sich stets in Geldnöten befindenden
Sultane von Marokko.
„Jawohl, Herrin.“ Der junge Mann nickte und machte
eine Notiz.
„Ich bin nicht deine Herrin, Aladdin.“
Sibylla drehte sich kurz um. „Du sollst mich Mrs. Hopkins nennen!“
„Gewiss, Mrs. Hopkins.“ Aladdin neigte
gehorsam den Kopf.
Vor zehn Jahren hatte er sich, seinen kleinen
Bruder auf dem Rücken tragend, mager und erschöpft nach Mogador geschleppt,
nachdem eine grausame Dürre das Getreide noch am Halm hatte verdorren lassen.
Alte und Kranke waren in ihren Dörfern verhungert, wer noch genug Kraft besaß,
war in der Hoffnung auf Arbeit und Brot in die Städte geströmt.
Sibylla hatte die beiden völlig entkräfteten
Kinder vor ihrem Lagerhaus aufgelesen und in ihrem Haus aufgenommen. Sie hatte
Aladdin und seinem Bruder Essen und ein Dach über dem Kopf gegeben. In der
Schule, die sie nach der Zerstörung Mogadors durch die Franzosen hatte bauen
lassen, hatten sie lesen, schreiben und rechnen gelernt, und nun verdienten sie
sich ihren Lebensunterhalt als Schreiber der Engliziya.
Sie hatte darauf bestanden, dass die Schule
Jungen und Mädchen, Ausländern und marokkanischen Kindern offenstand. Bis dahin
hatte es nämlich nur die arabische Zaouia und die jüdische Jeschiwa gegeben.
Die Europäer hatten ihre Kinder selbst unterrichtet und später auf Internate im
fernen Europa geschickt. Das war nun nicht mehr nötig und Sibyllas Ansehen sehr
gestiegen, obwohl es immer noch Familien gab, die es ablehnten, sich mit
Angehörigen anderer Religionen oder Nationalitäten zu vermischen.
Sibylla wandte sich den nächsten Stapeln zu,
zählte und sagte zu ihrem Schreiber: „Zweihundertfünfzig Häute für Tricker
Schuhe, London…“
„Bonjour, Madame!“
In der offenen Lagertür zeichnete sich der
Umriss eines Mannes in Reitkleidung und derben Stiefeln ab.
Sie richtete sich auf, strich ihr Haar glatt
und entgegnete ein wenig förmlich: „Guten Tag, André! Wenn du in der Stadt
bist, kann das nur bedeuten, dass auf Qasr el Bahia die Safranernte eingebracht
ist.“
Er trat näher und küsste sie auf beide
Wangen. Sein Geruch nach Sonne, Erde und Pferd stieg ihr in die Nase – der
Geruch, den er immer von Qasr el Bahia mitbrachte und den sie nur mit ihm
verband. Rasch trat sie einen Schritt zurück. „Ich schätze diese französischen
Sitten nicht!“
Obwohl sie seit längerer Zeit wieder miteinander
sprachen, legte Sibylla Wert darauf, dass ihre Verbindung rein geschäftlich
blieb.
Er lächelte. „Erwartest du, dass ich eine
Dame mit Handschlag begrüße wie einen Mann? Und ja, ich habe das Gewürz der
Götter dabei. Ein Kilo nur für die Reederei Spencer & Sohn.“ Er klopfte mit
der flachen Hand auf die Satteltasche, die zusammen mit dem Gewehr über seiner
rechten Schulter hing.
Seine Bewegungen waren noch genauso elastisch
wie die eines jungen Mannes, seine Gestalt kraftvoll und seine Schultern
gerade. Doch seine von Wind und Sonne gegerbte Haut verriet wie das grau
gesträhnte Haar und der Kranz von Falten um seine Augen, dass er in der zweiten
Hälfte seines Lebens stand.
Sibylla zog die Brauen empor. „Wieder nur ein
Kilo? Schade! Du könntest viel mehr verdienen, wenn du deine Anbauflächen
ausschließlich für Safran nutzen würdest. Ich könnte von dieser Qualität leicht
ein Vielfaches verkaufen!“
Es wollte Sibylla nicht in den Kopf, dass
André, der auf seinem Land die besten Voraussetzungen für Safran vorfand, auf
der Hälfte der Felder Orangen, Datteln, Getreide und Gemüse anbaute und sich
damit um eine Menge Geld brachte. Obendrein verkaufte er nie die ganze Ernte,
sondern behielt immer etwas zurück – seinen Notgroschen, behauptete
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