Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Loewin von Mogador

Die Loewin von Mogador

Titel: Die Loewin von Mogador Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Drosten
Vom Netzwerk:
Charing Cross Hospital praktische Erfahrungen gesammelt. Jetzt
wollten sie nach Mogador zurückkehren, genau wie John, der bei seinem Onkel
Oscar die Geschäfte eines Reeders und Überseekaufmanns erlernt hatte.
    „Ich glaube, wir können jetzt zu Tisch.“ Die
junge Frau neben John legte vertraulich eine Hand auf seinen Arm.
    Vor drei Jahren hatte er Victoria Rhodes in
der neu eröffneten National PortrAit Gallery kennengelernt. Sie waren vor dem
umstrittenen Chandos-Porträt von William Shakespeare zusammengestoßen, und John
hatte bald festgestellt, dass sie die Ehefrau abgeben würde, die er suchte.
    Mit ihrem blassen Teint und dem aschblonden
Haar stellte sie keine herausragende Schönheit dar, aber sie war gebildet und
wusste zu repräsentieren. Außerdem gehörten ihrer Familie im walisischen Cardiff
große Eisenwerke, die John als Teil der Mitgift betrachtete. Stahl galt als der
Baustoff der Zukunft, besonders in der Schifffahrt, und er lag seinem Onkel
schon lange in den Ohren, die Flotte der Reederei mit den technisch noch ganz
neuen Dampfern zu modernisieren.
    Vierzig Menschen nahmen an der gedeckten
Tafel Platz. Blumengestecke und silberne Kerzenleuchter, funkelndes Kristall
und Royal-Worcester-Porzellan schmückten den langen Tisch, und in der Küche
vollbrachte Oscars französischer Koch Glanzleistungen. Gelächter und leise
geführte Unterhaltungen füllten den Saal. Dazwischen erhob sich immer wieder
einer der Herren, um eine Rede auf den frischgebackenen Doktor Hopkins zu
halten.
    „Ich wünschte, dein Großvater könnte diesen
Tag erleben! Ein Jahr liegt er jetzt schon unter der Erde, aber wie stolz wäre
er auf den ersten Gelehrten der Familie Spencer!“, seufzte Mary und tastete
nach dem Medaillon mit der Haarlocke von Richard, ihr einziger Schmuck zu der
schwarzen Witwenkleidung.
    „Ich bin ebenso der erste Gelehrte der
Familie Hopkins“, verbesserte Thomas seine Stiefgroßmutter sanft. Er dachte
dabei an seine Mutter und seine kleine Schwester, die weit weg in Mogador
lebten.
    Mary ahnte, was er meinte. „Natürlich“,
murmelte sie. „Die arme Sibylla hat ein schweres Schicksal, fern von England,
ohne die Hilfe eines Mannes. Sie kann froh und dankbar sein, dass sie euch hat.
Fünf Jahre hat sie euch nicht gesehen. Gewiss ist sie außer sich vor Freude,
wenn ihr zu Weihnachten wieder bei ihr in Mogador sein werdet.“
    „Ist es nicht unglaublich, wie schnell die
Zeit vergangen ist?“, mischte Oscar sich ein. „Ich weiß noch, als wäre es
gestern, wie ihr in London angekommen seid – grüne Jungs, siebzehn und achtzehn
Jahre alt. Ich hoffe, dass du der Reederei Ehre machst, wenn du in Mogador mein
neuer Geschäftspartner bist, John!“
    John lachte. „Anfangs werde ich Mutter
unterstützen. Ich glaube nämlich nicht, dass sie die Geschäftsleitung schon
jetzt an mich abgibt. Handel zu treiben macht ihr viel zu viel Spaß.“
    Oscar schüttelte den Kopf. „Meine Schwester
war in dieser Hinsicht schon immer ein wenig seltsam. Benjamin – Gott hab ihn
selig – hatte ganz Recht, wenn er sagte, sie wäre ein Blaustrumpf. Vermutlich
steckt eine Frauenrechtlerin in ihr.“
    „Das ist nicht dein Ernst, Oscar!“, rief Mary
schockiert aus.
    „Aber gewiss, Mutter. Würde sie noch in
London leben, würde sie auf der Straße für das Frauenwahlrecht streiten wie
diese schreckliche Mrs. Bodichon. Ah, da kommt unser Filet de Sole, wunderbar!“
Er nickte beifällig, als ein Diener die in Estragonsauce schwimmende Seezunge
vor ihn stellte.
    Mary beugte sich zu John und fragte leise:
„Stimmt es, dass deine Mutter sich in Hosen kleidet wie ein Mann?“
    John biss sich auf die Lippen, um nicht laut
herauszulachen. „Wer behauptet denn so etwas? Sie trägt häufig die
traditionelle Kleidung der Araberinnen, zu der auch weite Hosen gehören. Aber
diese Hosen sind aus bunter Seide, mit Silber- oder Goldfäden bestickt. Kennst
du Männer, die bestickte Seidenhosen tragen? Ich nicht.“
    „Das Ganze war wohl ein Missverständnis“,
murmelte Mary errötend.
    Thomas nahm sein Glas und stand auf: „An
dieser Stelle möchte ich einen Toast auf eine außergewöhnliche Frau ausbringen
– unsere Mutter. Ihre Willenskraft, ihre Fähigkeiten als Kauffrau und nicht zuletzt
ihre Liebe zu uns haben es John und mir nach dem frühen Tod unseres Vaters
ermöglicht, sorglos aufzuwachsen. Auf unsere Mutter Sibylla Hopkins!“
    „Und auf unsere kleine Schwester Emily!“,
ergänzte John. „Wir freuen uns, bald

Weitere Kostenlose Bücher