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Die Loewin von Mogador

Die Loewin von Mogador

Titel: Die Loewin von Mogador Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Drosten
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keineswegs beendet. Nie hast du Zeit
für mich, nie ein offenes Ohr für meine Sorgen. Manchmal habe ich den Eindruck,
dass wir dir egal sind!“
    John atmete tief durch. Er hasste die ständigen
Szenen seiner Frau. In England war sie vernünftiger gewesen und nicht wegen
Kleinigkeiten aus der Haut gefahren oder in Weinkrämpfe ausgebrochen. Hier
hatte er manchmal den Eindruck, mit einer Fremden verheiratet zu sein, und er
hatte keine Ahnung, wie er mit ihren Stimmungen umgehen sollte. Seine Mutter
hatte ihm erklärt, dass Victoria unter Heimweh litt und er geduldig und
verständnisvoll mit ihr sein müsste. Aber sie lebten schon sieben Monate in
Marokko, und er fand, seine Frau hätte genug Heimweh gehabt!
    „Weißt du, dass die Kinderfrau nur wegen
Nadira abgereist ist?“, klagte Victoria. „Die Schwarze mischte sich ständig in
ihre Erziehungsmethoden ein – man stelle sich das vor: Eine Eingeborene, die in
einer Blätterhütte irgendwo in Afrika aufgewachsen ist, gibt einer
ausgebildeten englischen Gouvernante Ratschläge, und du unternimmst nicht das
Geringste! Ich kann verstehen, dass sie abgereist ist, und ich beneide sie,
dass sie wieder in London leben darf!“
    „Meine Gattin beneidet ihre Dienstboten! Warum,
frage ich mich? Weil sie den ganzen Tag Befehle empfangen dürfen?“, erwiderte
John ironisch. Demonstrativ zog er seine Uhr aus der Westentasche und warf
einen Blick darauf.
    Victoria sah ihn einen Moment fassungslos an,
dann barg sie ihr Gesicht in den Händen. John hörte ihr ersticktes Weinen, ihre
Schultern bebten. Schmal war sie geworden, und das Unglück, in Mogador leben zu
müssen, war ihr überdeutlich anzumerken.
    „Für dich ist es einfach hier“, hatte seine
Mutter zu ihm gesagt. „Du bist hier geboren und aufgewachsen. Mogador ist dein
Zuhause. Deine Frau kommt aus einer ganz anderen Welt. Sie hat ein großes Opfer
für dich und Selwyn gebracht, indem sie alles verlassen hat, was ihr lieb und
vertraut ist. Vergiss das nicht!“
    John zögerte. Dann legte er seine Mappe auf
den Schreibtisch zurück, setzte sich neben Victoria auf das Sofa und
streichelte unbeholfen ihren Rücken. Er selbst war glücklich und zufrieden und
hätte sein Leben hier um nichts in der Welt gegen das riesige, laute, nasskalte
London eingetauscht.
    Victoria legte zerknirscht ihre Stirn an
seine Schulter. „Ach, John! Es tut mir ja so leid, dass ich wieder die Nerven
verloren habe! Aber ich fühle mich so allein hier. Ich habe mir Mogador ganz
anders vorgestellt.“
    „Wie denn, Liebes?“, fragte John, obwohl er
die Antwort mindestens ein Dutzend Mal gehört hatte. Victoria fühlte sich wie
eine Gefangene in dem kleinen Mogador. Ausflüge waren kaum möglich, denn in der
letzten Zeit waren Reisende oft von Räuberbanden überfallen worden, die der
Hunger aus ihren Heimatdörfern vertrieben hatte. Innerhalb der Stadtmauern war
das Leben zwar sicher, aber auch langweilig und monoton. Es gab kaum
Zerstreuungen, keine Theater, keine Ausstellungen, keine Sportereignisse. Das
Haus, in dem Victoria lebte, war verglichen mit ihrer Villa im vornehmen
Mayfair, altmodisch und klein. Es gab nicht einmal Gasbeleuchtung, die Zimmer
waren eng, und die Dienstboten befolgten ihre Anweisungen nicht, sondern
betrachteten ihre Schwiegermutter als alleinige Herrin. Sibylla hatte Victoria
zwar Firyal als Zofe zugeteilt, aber die konnte nicht einmal ihr Mieder richtig
schnüren.
    Außerdem fürchtete Victoria sich vor ihrem
dunklen undurchschaubaren Gesicht, und seit ein arabischer Händler ihr für ihre
Einkäufe das Dreifache des Üblichen berechnet hatte, weil sie nicht wusste,
dass man hierzulande um die Preise feilschte, hielt sie sie alle für Halunken.
    „Auf den Straßen ist es so entsetzlich
schmutzig!“, jammerte Victoria. „Vor jedem Hauseingang sitzen Bettler und
versuchen, dich festzuhalten. Ich habe noch nie so viele Entstellte und
Verkrüppelte gesehen wie hier. Es ist einfach entsetzlich!“
    „Entstellte und Verkrüppelte gibt es im East
End auch, das wird mein Bruder dir bestätigen“, warf John trocken ein, aber sie
schüttelte eigensinnig den Kopf. „In England gibt es nicht solche erbärmlichen
Zustände. Wir haben Kliniken, Waisenhäuser und Hilfsorganisationen. Ich war
selbst Mitglied im Komitee des Heims für verwaiste Soldatentöchter.“
    John nahm Victorias Hände zwischen seine.
„Jetzt sieh mich einmal an, Liebes! Meinst du nicht, dass du über deinem Kummer
etwas sehr Wichtiges vergessen

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