Die Loewin von Mogador
hast? Ich rede von unserem Sohn. Ist dir nicht
aufgefallen, wie gut es Selwyn geht? Seit Monaten hat er nicht mehr gehustet.
Ich glaube, seine Lungen sind hier gesund geworden. Ist das denn gar nichts
wert?“
„Natürlich!“, beteuerte sie. „Selwyns
Gesundheit ist das Einzige, was mich hier aushalten lässt.“
„Ich würde meinen, das ist ein sehr guter
Grund.“ Er zog erneut seine Taschenuhr hervor und sah darauf. „Es tut mir leid,
Liebes, aber ich muss wirklich gehen. Ich bin spät dran.“
Sie nickte ergeben und fuhr sich über das
Haar. „Worum geht es in deiner Besprechung?“
„Wieder einmal um das Hafenbecken. Konsul
Willshire und ich möchten den Kaid überzeugen, es endlich auszubauen, so dass
irgendwann auch Dampfschiffe Mogador anlaufen können.“
„Dampfschiffe? Nutzen die Reedereien denn
bald keine Segelschiffe mehr?“
„Doch, aber ich bin überzeugt, dass
Dampfschiffe die Segler ablösen werden. Schon jetzt gibt es Dampfsegler, die
zwischen Europa und Amerika verkehren. Diese Entwicklung lässt sich nicht mehr
aufhalten. Unser aller Zukunft hier in Mogador hängt davon ab, dass wir
möglichst gut auf die neuen Zeiten vorbereitet sind.“ Er küsste Victoria auf
den Scheitel und stand auf. „Bis heute Abend, Liebes.“
„Auf Wiedersehen, und John ...“
„Ja?“ Er drehte sich um, eine Hand auf der
Türklinke.
„Ich bleibe nicht nur wegen Selwyn hier,
sondern auch dir zuliebe.“
„Wirklich, Liebes? Das ist schön.“ Er winkte
ihr abwesend. Gleich darauf klappte die Tür hinter ihm zu.
Victoria blickte ihm mit schiefem Lächeln
nach. Die Standuhr, die sie aus England mitgebracht hatten, tickte laut in der
Stille. Sie schaute auf das Zifferblatt. Es war noch nicht ganz zwölf. Heute
Nachmittag fand bei ihrer Nachbarin Sara Willshire der wöchentliche Damentee
für die Gattinnen der ausländischen Kaufleute und Konsuln statt. Ihre
Schwiegermutter ging nie zu diesen Treffen, die, wie sie behauptete, nur einen
Vorwand boten, um ungestört Klatsch auszutauschen. Wenn Sibylla Tee trinken
ging, dann in den Harem des Kaids, und sogar dann machte sie nebenbei
Geschäfte. Sie hatte Victoria schon mehrfach eingeladen, mitzukommen, aber
diese weigerte sich standhaft. Es reichte, dass der Koch, der Torwächter und
der Gärtner in diesem Haus Araber waren – auch noch gesellschaftlichen Umgang
mit ihnen zu pflegen, ging zu weit.
Durch die geschlossene Tür hörte sie
gedämpftes Lachen. Charlotte und Selwyn spielten im Riad. Victoria merkte, dass
sie Sehnsucht nach den Kindern hatte. Ich werde mit ihnen an den Strand gehen,
beschloss sie. Dort konnten sie im Sand Muscheln suchen.
Vom nahen Minarett ertönte der Gesang des
Muezzins, der die Gläubigen zum Mittagsgebet rief. Victoria seufzte tief. Sie
hätte nie gedacht, dass sie sich einmal so nach dem Läuten von Kirchenglocken
sehnen würde.
Charlotte saß neben Nadira auf einer Decke
auf dem Boden. Die Sonne zauberte kleine Lichter auf ihre blonden Löckchen, sie
wiegte ihre Puppe im Arm, trällerte mit piepsiger Stimme ein Liedchen und
strahlte ihre Mutter zufrieden an.
Victoria gab ihr einen Kuss und sah sich dann
nach Selwyn um. Er hockte auf der Schaukel, die John an einem stabilen Ast des
knorrigen alten Olivenbaumes befestigt hatte. Sibylla schubste ihn sanft vor
und zurück, und er kreischte vor Vergnügen. Von dem bleichen, hustenden kleinen
Jungen war nichts mehr zu erkennen. Selwyn war gewachsen, seine Wangen rund und
rosig, und er wurde jeden Tag kräftiger und selbstsicherer.
Doch obwohl Victoria wusste, dass sie sich
hätte freuen sollen, weil es dem Kleinen so gut ging, war sie eifersüchtig.
Warum strahlte ihr Sohn Sibylla an und nicht sie, seine Mutter?
Heftiger als beabsichtigt hob sie Selwyn von
der Schaukel.
Prompt fing er an, zu weinen. „Will nicht!“,
kreischte er und strampelte mit den Beinen. Victoria schossen Tränen in die
Augen, und ihre ganze Enttäuschung entlud sich über Sibylla. „Wie kannst du ihn
so wild schaukeln lassen! Er wird herunterfallen und sich wehtun!“
„Da passe ich schon auf“, erwiderte Sibylla
ruhig. „Lass ihm doch den Spaß!“
„Sag mir nicht, was für meine Kinder richtig
oder falsch ist!“ Victoria drückte Selwyn noch fester an sich, aber er stemmte
beide Fäuste gegen ihre Schultern und bog sich brüllend zurück, so dass ihr
nichts anderes übrig blieb, als ihn auf den Boden zu stellen. Sofort lief er zu
Sibylla und drückte sich an ihre Beine.
„Sieh
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