Die Loewin von Mogador
als er zum ersten Mal seiner knapp fünfjährigen Tochter begegnet war.
Er hatte auf der Stadtmauer von Mogador gestanden, auf das Meer geschaut und
die Gedanken wie die Wolken am Himmel durch seinen Kopf ziehen lassen, als er
sie gesehen hatte: Nadira und Sibylla am Strand, wie sie mit einem kleinen
Mädchen gespielt hatten. So hatte er überhaupt erst erfahren, dass Sibylla eine
Tochter hatte, und der erste Gedanke, der sich ihm aufgedrängt hatte, war, dass
dieses schwarzlockige Kind unmöglich das Kind von Hopkins sein konnte.
Er hatte sich ein wenig in der Stadt
umgehört, und als er erfahren hatte, dass sie nicht wieder geheiratet hatte,
dass sie allein mit ihren Kindern lebte und die Geschäfte der Reederei führte,
war seine Erleichterung grenzenlos gewesen. Aber das Kind war ihm nicht mehr
aus dem Kopf gegangen. Wenig später war es ihm über seinen Safran gelungen,
endlich wieder mit Sibylla in Kontakt zu treten, und es blieb nicht aus, dass
er auch die Kleine kennenlernte. Von da an war das Gefühl, dass womöglich er
Emilys Vater war, nicht Hopkins, wie Sibylla behauptete, immer stärker
geworden.
„Du hättest es mir nie gesagt, nicht wahr?“,
fragte er leise. Sie bedeckte ihre Augen mit einer Hand und schwieg. Er trat
vorsichtig näher und berührte ihre Schulter, aber sie zuckte zurück.
„Was hast du erwartet?“, fuhr sie ihn an. „Du
hast das Leben mit Aynur dem Leben mit mir vorgezogen. Sie hat dir eine Tochter
geboren – nur fünf Wochen, nachdem Emily auf die Welt gekommen ist!“
„Ich hätte das Leben mit dir vorgezogen, Sibylla…“
Er brach ab. Aynur hatte ihn damals mit einer List in ihre Arme gelockt. Aber
später hatte er ihre Beweggründe verstanden, und sie war ihm eine gute
Gefährtin geworden. Er wollte kein schlechtes Wort über sie verlieren.
„Emily hat gefragt, ob sie vorerst bei mir
auf Qasr el Bahia bleiben darf. Ich habe eingewilligt“, informierte er Sibylla schließlich.
Sie fuhr herum. „Das kommt überhaupt nicht in
Frage! Ich erlaube es nicht!“
„Emily hat diese Entscheidung getroffen. Das
musst du respektieren“
„Niemals!“ Sibylla fühlte sich zutiefst
verletzt – von Emily, die ihr so hart und unnachgiebig den Rücken kehrte, und
von André, der ihr dabei half.
„Zwanzig Jahre hast du die Wahrheit vor mir
verborgen, und ich durfte Emily kein Vater sein. Nun braucht sie einen Vater,
und ich werde für sie da sein!“
„Glaubst du, ich werde Emily deiner…“ Sibylla
konnte sich nicht überwinden das Wort „Frau“ auszusprechen. „…Aynur
überlassen?! Sie wird sie allein schon deshalb ablehnen, weil sie meine Tochter
ist. Sie wird ihr wehtun, sie wird…“
„Bitte beruhige dich, Sibylla! Erstens wird
Aynur nichts dergleichen tun, zweitens bin ich auch noch da, und drittens ist
es Emilys Wille, mich zu begleiten.“
„Sie ist doch noch ein Kind und hat keine
Ahnung!“, wehrte Sibylla ab.
André legte behutsam einen Arm um sie und zog
sie an sich. Einige Sekunden lang waren nur das gedämpfte Rauschen der Brandung
und die Geräusche vom Hafen zu hören, dann platzte Sibylla heraus: „Oh, diese
Sara Willshire, ich könnte sie umbringen! Ihrem losen Mundwerk verdanke ich es,
dass meine ganze Familie sich gegen mich stellt! Emily hat ihren Studienplatz
an der Royal Academy of Arts aufgegeben, weil sie nicht mit mir nach London
reisen will. Sie redet kaum noch ein Wort mit mir. Spreche ich sie an, dreht
sie mir den Rücken zu und geht aus dem Zimmer.“
„Gib ihr Zeit. Die Nachricht war ein Schock
für sie.“
„Du hast gut reden! Dich behandelt sie nicht
wie eine Verbrecherin!“ Stockend berichtete Sibylla, dass nicht nur Emily ihr
zürnte. Thomas war gekränkt, dass sie ihm nicht vertraut hatte, und John fühlte
sich blamiert. „Allein die Vorstellung, dass offensichtlich jeder, der uns
kennt, Bescheid wusste“, hatte er sich aufgeregt. „Ich stehe wie ein Dummkopf
vor den anderen Kaufleuten da! Wie sollen sie mich jetzt noch als Geschäftsmann
ernst nehmen?“
Victoria, die die Lawine ins Rollen gebracht
hatte, verkroch sich in ihrem Zimmer. Wenn Sibylla ihr zufällig im Haus
begegnete, schlug sie die Augen nieder und lief rasch weiter.
Sibylla hob den Kopf und blickte André in die
Augen. „Ich habe den Eindruck, dass Victoria sich schämt. Bis jetzt hat sie
mich allerdings nicht um Verzeihung gebeten. Und ehrlich gesagt bin ich auch
noch nicht bereit, ihr zu verzeihen. Du bist gewiss ebenfalls ärgerlich auf
mich, weil
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