Die Loewin von Mogador
gewünscht, dass du
glücklich und sorglos aufwächst. Der Makel einer unehelichen Geburt sollte dein
Leben nicht überschatten. Benjamin war gerade gestorben, ich war allein und
wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Rouston hat mir damals Halt gegeben.
Ich glaubte fest, dass wir eine gemeinsame Zukunft hätten, aber leider…“ Sie
schluckte schwer. „…kam alles anders. Glaub mir, Emily, ich wollte dir diesen
Kummer ersparen!“
Emily stand auf. „Mein Leben lang hast du mir
gesagt, mein Vater sei tot. Dabei war mein richtiger Vater die ganze Zeit da.
Diese Lüge verzeihe ich dir nie!“
Kapitel
vierundzwanzig – Mogador und Qasr el Bahia im Dezember 1860
André blieb vor der Tür zu Sibyllas Büro
stehen, schloss die Augen und lauschte in sich hinein. Schon lange hatte er
sich nicht mehr so glücklich, fast beschwingt gefühlt. Gleichzeitig war er
aufgeregt bei dem Gedanken, gleich Sibylla gegenüberzutreten. Er konzentrierte
sich noch ein paar Sekunden auf die vor ihm liegende Begegnung. Dann öffnete er
die Augen und klopfte an.
„Ja bitte!“, hörte er ihre Stimme.
Er atmete tief durch und drückte die Klinke
herunter. Sibylla stand am Fenster und blickte auf den Hafen hinaus. Ihr
Schreiber wartete hinter einem Stehpult mit dem Griffel in der Hand und blickte
sie erwartungsvoll an.
„Wir hoffen, dass die Lieferung Ihren
Vorstellungen entspricht, und freuen uns auf eine lange und erfolgreiche
Geschäftsbeziehung mit Ihnen. Hochachtungsvoll und so weiter“, diktierte sie.
„Das war es vorerst, Aladdin. Lass den Brief hier, damit ich ihn noch
unterschreiben kann.“
„Jawohl, Mrs. Hopkins.“
Nachdem der Schreiber das Büro verlassen
hatte, begrüßte sie ihren Gast: „Guten Tag, André. Ich habe dich schon
erwartet. Du hast mir wieder Safran mitgebracht?“
Bei ihrem Anblick verspürte er die vertraute
Mischung aus Schmerz, Zärtlichkeit und Bewunderung. Sonnenlicht glitzerte auf
ihrem weißblonden Haar und brach sich in den winzigen Diamanten in ihren Ohren.
Ihre geraden Schultern und der aufgerichtete Rücken strahlten Autorität aus, aber
ihm fielen auch die Sorgenfalten um ihre Augen auf.
„Wie jedes Jahr im Dezember.“ Er stellte
seine Satteltasche auf das Schreibpult und nahm den Leinensack heraus. Dann
drehte er sich zu ihr und musterte sie schweigend. „Du siehst schlecht aus.“
„Wie liebenswürdig du heute bist! Ist das die
berühmte französische Galanterie?“ Sibylla öffnete den Beutel und schüttete
etwas Safran auf ihre Handfläche. Doch sie prüfte die Qualität der Blütenfäden
nicht mit ihrer sonstigen Sorgfalt.
„Heute könnte ich dir ohne weiteres einen
Beutel Ringelblumenblüten andrehen“, stellte André schmunzelnd fest.
„Darauf würde ich mich nicht verlassen.“ Sie
schloss den Schrank auf, in dem sie den Safran bis zur Verschiffung
aufbewahrte. Vom Hafen drangen gedämpfte Rufe, das Klappern von Kisten, eine
Winde quietschte, und unter ihnen im Lager fiel krachend eine Tür zu.
Er nahm ihr die Tongefäße ab und stellte sie
auf die Tischplatte. „Ich habe gerade Emily getroffen.“
Die junge Frau hatte ihm regelrecht
aufgelauert. Sie wusste, dass er um diese Zeit nach Mogador kam, und hatte
einen der Bettler, die am Bab Doukala saßen, beauftragt, sie sofort zu
benachrichtigen, wenn Monsieur Rouston durch das Stadttor ritt. Er war gerade
erst vor dem französischen Konsulat vom Pferd gestiegen, da hatte sie schon vor
ihm gestanden, so aufgeregt, dass er im ersten Moment fürchtete, Sibylla wäre
etwas zugestoßen. Was Emily ihm jedoch dann erzählt hatte, hatte ihn völlig
unvorbereitet getroffen.
Sibylla holte die Waage aus dem Schrank und
setzte sie mit einem dumpfen Knall auf den Tisch. „Wir sollten über die
Qualität deiner Ernte sprechen, nicht über meine Familie!“
„Sibylla.“ André legte behutsam eine Hand auf
ihren Arm. „Emily hat mir erzählt, was vorgefallen ist. Meinst du nicht, fast
zwanzig Jahre mit einer Lüge zu leben, sei genug?“
„Was fällt dir ein!“ Sie riss ihren Arm
zurück.
„Ich kann mir vorstellen, wie schmerzhaft
alles für dich ist, aber gewiss war es noch schwerer, die Fassade
aufrechtzuerhalten. Es ist gut, wenn Emily endlich weiß, dass ich ihr Vater
bin.“
Sibyllas Gesicht zuckte. Sekundenlang glaubte
er, sie würde ihn mitsamt seinem Safran hinauswerfen. Doch sie stellte nur
leise fest: „Du hast es vermutlich schon länger geahnt.“
Er erinnerte sich an jenen Tag vor fünfzehn
Jahren,
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