Die Loewin von Mogador
Moffat schüttelte den Kopf.
Richard zog unwillig die Stirn in Falten.
„Durch Mr. Fishers Tod wird es mindestens ein halbes Jahr dauern, bis wir
wieder im Geschäft sind.“
„Aber wir haben doch jemanden für Mogador,
Vater“, meldete Sibylla sich zu Wort und legte eine Hand auf Benjamins Arm.
„Meinen Ehemann.“
Kapitel
vier - Mogador, Anfang Mai 1836
„Das ist ja wie in London.“ Benjamin reichte
Kapitän Brown verdrossen das Fernglas zurück. Der dichte Nebel verhinderte jede
Sicht. Der Hafen von Mogador und die Befestigungsanlagen der Stadt blieben
unsichtbar, obwohl sich die Queen Charlotte nach Auskunft von Brown unmittelbar
vor der Hafeneinfahrt befand.
Der Kapitän schob das Instrument zusammen und
steckte es in seine Manteltasche. „Nebel ist tatsächlich ein häufiges Phänomen
vor dieser Küste. Der Kanarenstrom kühlt die Atlantikluft ab, und das gibt dann
diese verdammte Suppe.“
„Seit zwei Tagen liegen wir jetzt hier. Wie
lange wird es noch dauern?“ Sibylla stand zwischen Brown und ihrem Mann an der
Reling und kämpfte gegen den Brechreiz an. Seit sie Ende März in London an Bord
der Queen Charlotte gegangen war, litt sie an quälender Seekrankheit.
„Es klart auf. Wir werden heute in den Hafen
einlaufen“, erwiderte der Kapitän zu ihrer und Benjamins grenzenloser
Verwunderung.
Sie blickten seinem ausgestreckten Arm nach,
und tatsächlich erahnten sie in der wabernden weißen Nebelwand den Schatten
eines schlanken Turmes. Vor einer halben Stunde war er noch nicht zu sehen
gewesen.
„Das Minarett der Moschee von Mogador“,
erklärte Brown. „Jetzt kann uns nur noch der Nordostpassat von der
Hafeneinfahrt abhalten. Aber ein britischer Westindiensegler wird damit
fertig.“
„Der Wind ist stark, das ist wahr, aber die
Stürme in der Nordsee waren schlimmer.“ Sibylla erinnerte sich mit Schaudern an
die ersten Tage ihrer Reise.
Brown ließ ein hämisches Lachen hören.
„Sollten Sie keine steife Brise vertragen, sind Sie in Mogador falsch. Hier
weht es das ganze Jahr über. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen. Ich muss mit
dem Steuermann besprechen, wie wir die Queen in einem Stück durch die
Hafeneinfahrt manövrieren.“ Er verbeugte sich knapp und eilte davon.
Das Segelschiff bäumte sich in einer neuen
Welle auf wie ein bockiges Pferd. Sibylla würgte und umklammerte Benjamins
Rechte.
„Du solltest in die Kabine gehen und dich
hinlegen“, schlug er vor.
Sie schüttelte heftig den Kopf. „Auf keinen
Fall! Ich habe fast die ganze Reise dort verbracht, abgesehen von den vier
Tagen, die wir in Lissabon auf den richtigen Wind gewartet haben.“
„Ich habe es mir viel heißer vorgestellt, so
nah an der Sahara“, sagte Benjamin. „Aber der englische Frühsommer ist genauso
mild, nur mit Regen versetzt.“
Wieder schwankte der Westindiensegler in der
starken Dünung. Sibylla schloss erschöpft die Augen.
In der Nacht hatte das Geschrei der Wache sie
aus dem ohnehin unruhigen Schlaf geholt. Kurz darauf waren Befehle gebrüllt
worden, Füße in Stiefeln rannten über das Deck, und schrille Pfiffe ertönten.
Das Schiff, das seit zwei Tagen vor Anker lag, bewegte sich wieder, aber nicht
vorwärts, wie es sollte. Stattdessen schien es um sich selbst zu kreiseln.
Benjamin war besorgt an Deck gerannt und einige Minuten später mit der
Nachricht zurückgekommen, dass die Ankerkette gerissen war. Sie waren in eine
Untiefe getrieben und drehten sich nun in dem Strudel. Aber das konnte er
Sibylla nicht mehr erklären, denn sie musste sich wieder übergeben, und er
hielt ihr den Blechnapf, der ständig neben ihrer Koje stand. Wenigstens lag die
Queen Charlotte im Morgengrauen wieder sicher an der Ersatzankerkette.
Über Sibyllas Kopf krächzte es heiser. Sie
blickte empor und sah zwei Möwen, die in der Rah des Fockmastes gelandet waren.
Über ihren weißen Köpfen war der Nebel entzweigerissen, und sie konnte ein
Stückchen blauen Himmel erkennen. Das Wetter wurde tatsächlich besser.
„Hättest du dir das träumen lassen, als Mr.
Moffat uns von seinen Erlebnissen in Marokko erzählt hat, dass wir zwei Monate
später selbst fast dort sind?“, fragte sie Benjamin.
Richard Spencer hatte keine Einwände
vorgebracht, als Sibylla Benjamins Entsendung nach Mogador vorgeschlagen hatte
– im Gegenteil: Er sollte so schnell wie möglich reisen.
Allerdings war Richard strikt dagegen, dass
Sibylla ihren Mann begleitete. Neuer Streit zwischen Vater und Tochter hatte
gedroht.
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