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Die Loewin von Mogador

Die Loewin von Mogador

Titel: Die Loewin von Mogador Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Drosten
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hatte wieder einmal an
Emily gedacht. Sie vermisste sie so sehr. Fast ein Jahr war es her, dass sie
Emily gesehen hatte. Ob es ihr gut ging? Ob sie sich manchmal nach ihr sehnte?
Und vor allem: Wann kam sie zurück nach Hause?
    „Lalla Jasira“, Sibylla drehte sich zu der
anderen Frau, „darf ich Ihnen eine Frage stellen?“
    „Das wissen Sie doch.“ Lalla Jasira bedeutete
den beiden Sklavinnen, die dazu übergegangen waren, die Haare der Frauen zu
kämmen, sich zu entfernen. „Jetzt sind wir ungestört, ehrwürdige Freundin.“
    Sibylla schluckte. Die Worte wollten ihr kaum
über die Lippen. „Bin ich eine Frau, die nicht verzeihen kann?“
    Lalla Jasira fuhr sich nachdenklich mit den
Fingern durch ihr langes silbernes Haar. „Das zu beurteilen steht nicht in
meiner Macht. Doch ich weiß, dass wir alle uns verändern können – von einem
Menschen, der nicht verzeiht, zu einem Menschen, der verzeiht.“
    „Aber wiegen manche Dinge nicht so schwer,
dass sie nicht zu verzeihen sind?“, hakte Sibylla zweifelnd nach.
    Lalla Jasira schaute sie mit ihren dunklen
freundlichen Augen an. „Wie schwer eine Verfehlung wiegt, kann nur Allah
entscheiden. Nur er kennt das innerste Wesen aller Menschen und ihrer Taten.“
Sie wippte mit ihren perlenverzierten Holzpantinen. „Ich spüre, dass Ihr Herz
weint, ehrwürdige Freundin. Wenn Sie erlauben, werde ich Ihnen eine Geschichte
über das Verzeihen erzählen.“
    „Au! Bei allen Heiligen!“ Bahars spitzer
Schmerzensschrei zerriss die Luft. Die Lieblingskonkubine von Kaid Samir war
inzwischen fertig gewaschen und abgeseift und lag auf einer mit einem seidenen
Teppich bedeckten Marmorbank. Eine Sklavin hatte eine Paste aus Zucker und
Zitronensaft auf ihren Venushügel und rund um ihre Genitalien gestrichen.
Nachdem die Paste angetrocknet war, riss die Sklavin die Kruste mitsamt den
unerwünschten Schamhaaren ab.
    Sibylla verspürte Mitgefühl. Sie erinnerte
sich noch gut an die beißenden Schmerzen ihrer ersten Haarentfernung. Damals
war sie erst kurze Zeit in Marokko gewesen und hatte keine Vorstellung gehabt,
was in einem Hamam geschah. Aber es hatte sie entsetzt, als die Bademeisterin
sich an ihren intimsten Körperteilen zu schaffen gemacht hatte – ein Ritual,
auf das sie inzwischen nicht mehr verzichten wollte.
    „Nun, nun!“, besänftigte Wahida die junge
Konkubine. „Ein bisschen Schmerz muss sein. Du willst doch nicht behaart wie
eine Bärin vor deinen Gebieter treten!“ Sie saß neben Bahar auf der Bank und
schnupperte an verschiedenen Parfümfläschchen, die eine Sklavin ihr auf einem
silbernen Tablett gebracht hatte. „Moschus“, entschied sie zufrieden. „Wir nehmen
Moschus für Bahar. Mein Sohn hält es wie der Prophet: Er liebt das Gebet, die
Frauen und den Duft.“
    Sibylla wandte sich wieder Lalla Jasira zu:
„Ich möchte Ihre Geschichte gern hören, Prinzessin. Bitte erzählen Sie!“
    Lalla Jasira stellte ihr Sorbetglas neben
sich auf die Marmorbank. „Vor vielen Jahren lebten zwei junge Frauen im Harem
eines mächtigen Mannes. Die eine war eine Edle aus dem Haus des Herrschers, in
Luxus und Reichtum aufgewachsen und zur Hauptfrau des Mannes bestimmt. Die
andere war eine arme Sklavin, eine Verschleppte, die ihre Familie, ihr Land und
ihren Glauben hatte zurücklassen müssen. Beide Frauen waren schön, und beide
wollten die Gunst ihres Gebieters für sich gewinnen. Anfangs war der Herr
gerecht. Er verteilte seine Aufmerksamkeit gleichmäßig auf beide und holte sie
gleich häufig in sein Bett. Es dauerte nicht lange, und die Sklavin wurde
schwanger. Der Mann war hocherfreut. Im Laufe vieler Jahre gebar sie ihm noch
mehr Söhne und Töchter, und für jedes Kind, das sie ihm schenkte, liebte der
Herr sie mehr.
    Der Schoß der Hauptfrau aber blieb leer. Sie
versuchte alles, um schwanger zu werden, suchte Rat bei Ärzten, Weisen und
Hexen, reiste zu Pilgerstätten und Heiligen, aber nichts half, und sie wurde
traurig und verbittert. Je verbitterter sie wurde, desto seltener holte der
Herr sie in sein Schlafgemach. Schließlich wandte er sich ihr gar nicht mehr
zu. In ihrem Kummer grollte sie sogar Allah, der sie so hart strafte, und aus
ihrer Bitterkeit entwickelte sich Hass. Gegen sich selbst, gegen ihren Mann und
gegen die Sklavin, die zur Lieblingsfrau des Herrn aufgestiegen war und alles
besaß, was sie selbst sich wünschte.
    Als sie alle Achtung vor sich verloren hatte,
erbarmte Allah sich ihrer. In einem Traum kam er zu ihr und sagte:

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