Die Loewin von Mogador
„Du bist hart
wie trockenes Holz, das splittert und bricht, wenn zu viel Druck darauf lastet.
Werde wie das Schilfrohr, das sich sanft im Wind wiegt, dann gewinnst du dein
Glück zurück. Folge meinem Beispiel, denn auch ich, der Ewige, bin Verzeihung
und Vergebung.“
Lalla Jasira schwieg, ihr Blick verlor sich
im Zwielicht des Bades. Sibylla sah zu den beiden Sklavinnen, die begonnen
hatten, Bahars Augen mit zerstoßenem grünem Malachit und schwarzem Khol zu
schminken. Sukalina saß mit finsterer Miene auf der entgegengesetzten Seite des
Hamams und saugte an einer Wasserpfeife.
Sibylla dachte an Emily und André, an
Victoria und Sara Willshire. Im Laufe der Jahre waren es immer mehr Menschen
geworden, denen sie grollte. Und zum ersten Mal dachte sie darüber nach, dass
es ebenso eine Menge Menschen gab, die ihr etwas zu verzeihen hatten. Sie
seufzte. „Ich danke Ihnen für diese schöne Geschichte, aber sie ist sehr
kompliziert, nicht wahr?“
Lalla Jasira blickte sie erstaunt an. „Hat
denn nicht auch Ihr Prophet Isa ibn Maryam, den Sie Jesus Christus nennen,
Liebe und Vergebung gepredigt? Ich will Ihnen erzählen, wie es weiterging,
nachdem die Hauptfrau des mächtigen Mannes sich damit abgefunden hatte, dass es
ihr Schicksal war, keine Kinder zu gebären. Sie vergab sich selbst und fand so
ihren Frieden. Und als das geschehen war, gewann sie auch die Achtung der
Frauen des Harems und ihres Gebieters zurück. Er holte sie nicht mehr oft in
sein Schlafgemach, aber er schätzte ihre Klugheit und ihr gutes Herz mehr, als
er früher ihren Körper geschätzt hatte, und immer öfter suchte er ihren Rat in
allen Dingen.“
„Und das ist das Ende?“, fragte Sibylla
gespannt.
Lalla Jasira schenkte ihr ein versonnenes
kleines Lächeln. „Die Geschichte von Liebe und Vergebung endet nie, nicht wahr,
ehrwürdige Freundin?“
„Guten Abend, Mutter. Verzeih, dass ich dich
warten ließ! Es war so viel zu tun. Erst als Aladdin mich daran erinnert hat,
ist mir wieder eingefallen, dass ich versprochen hatte, dich abzuholen.“ John
beugte sich vor, um Sibylla auf die Wange zu küssen.
„Mach dir keine Sorgen. Ich hatte einen
wunderbaren Nachmittag.“ Sie küsste ihren Sohn ebenfalls.
Er bot seiner Mutter den Arm. Während sie
durch die dunklen Gassen nach Hause gingen, erzählte er ihr von seinem Tag, von
den Geschäften und von den beiden Schiffen der Reederei, die heute den Hafen
verlassen hatten. Dann berichtete er, dass er noch einmal mit verschiedenen
Leuten wegen des Einbruchs gesprochen hätte, unter anderem mit dem Hafenmeister
und mit Konsul Willshire. Aber niemand wollte etwas Ungewöhnliches bemerkt
haben. Es hatte keine weiteren Einbrüche im Ausländerviertel der Stadt gegeben.
Wer auch immer der Eindringling war: Er blieb wie vom Erdboden verschluckt.
„Eine höchst beunruhigende Vorstellung.“
Sibylla dachte an die zerwühlte Erde rund um das Fundament der Sonnenuhr.
„Nicht wahr? Hätte er nicht Spuren in unserem
Garten hinterlassen, könnte man meinen, wir hätten uns alles nur eingebildet.“
„Ich wünschte, es wäre so“, murmelte Sibylla.
„Herrin! Endlich sind Sie zurück!“ Hamid
schien sehr erleichtert, als Sibylla und John wenig später vor ihrem Haus
ankamen.
„Wieso? Ist wieder etwas passiert?“, fragte
Sibylla beunruhigt. „Ein weiterer Einbruch?“
„Nein, Herrin, kein Einbruch, aber-“
In diesem Moment bog Nadira in den Hausflur und
rief: „Herrin! Gut, dass Sie wieder da sind!“
„Was ist geschehen?“ Sibylla musterte die
beiden Diener scharf.
Nadira nahm ihr den Mantel ab. „Sie haben
Besuch von Qasr el Bahia, Herrin. Er wartet im Salon.“
„Hoffentlich ist Emily nichts zugestoßen!“ Sibylla
lief, gefolgt von John, los. Als sie die Tür zum Salon aufstieß, sprang der
Gast hastig vom Diwan auf und verbeugte sich linkisch. Sibylla blieb stocksteif
im Türrahmen stehen. „André??“
Doch nach der ersten verwirrenden Sekunde
wurde ihr klar, dass dieser junge Mann zwar aussah wie André, allerdings nicht
wie der André, den sie kannte, sondern wie der, der er einmal gewesen sein
musste, viele Jahre, bevor ihre Wege sich gekreuzt hatten.
„Mrs. Hopkins?“ Der Fremde blickte sie
unsicher an. „Ich bin Frédéric Rouston. Emily schickt mich. Sie sagte, Sie
würden uns helfen. Qasr el Bahia wurde heute Morgen überfallen!“
„Mein Gott!“ Sibyllas Knie gaben nach. Sie
spürte Johns stützende Hand im Rücken und hörte aus weiter Ferne
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