Die Loewin von Mogador
kommst dicht hinter mir und hältst
dich an beiden Haltetauen fest.“ Sie nickte tapfer, aber sie war blass.
„Hab keine Angst!“, ermutigte er sie. „Alles
wird gut gehen.“
Eine halbe Stunde später gingen sie endlich an
Land. Sie waren von Gischt durchnässt, und Sibylla hatte nach vielen Tagen auf
See den Eindruck, der Erdboden schwankte unter ihren Füßen. Trotzdem überkam
sie ein feierliches Gefühl.
Ich bin in Afrika, dachte sie. Wie viele
Europäer können so etwas von sich sagen? Und die Frauen unter ihnen kann ich
bestimmt an zwei Händen abzählen!
Sie blickte zu den dicken Befestigungsmauern
mit den bunten Fahnen und fremdartigen Schriftzeichen, die an Türmen und Zinnen
flatterten. Hinter den Bollwerken drängte sich Mogador – die blaue Perle am
Atlantik, wie die Araber die Stadt voller Überschwang nannten. Würfelförmige
Häuser nicht höher als zwei Etagen standen dicht an dicht. Ihre weiß gekalkten
Mauern strahlten im Sonnenlicht. Der hohe Turm eines Minaretts reckte sich in einen
Himmel, der so blau war, als habe es den dichten Nebel vor kurzem nie gegeben.
Dazu flatterten die Landesfahnen der ausländischen Konsulate an hohen
Fahnenstangen auf den Dächern im Wind. Kreischende Möwen segelten über ihnen.
Der Wind riss an Sibyllas Kleid und zerzauste ihr Haar. Winzige Sandkörner
brannten auf ihrer Haut, und es roch nach Salzwasser.
Außer der Queen ankerten noch andere
Hochseesegler im Hafen. Sibylla erkannte französische, amerikanische, spanische
und preußische Flaggen, aber im Vergleich zu dem umtriebigen Londoner Hafen
waren es nur wenige. An der Mole lagen mehrere kleine Boote. Fischer flickten
am Ufer ihre Netze. Es gab auch eine kleine Werft, in der das Holzgerüst eines
Fischerkahns auf seine Fertigstellung wartete. Dann bemerkte sie eine Gruppe
von Männern, die aus dem dämmrigen Gewölbe eines mächtigen Stadttores
auftauchten.
„Das Empfangskomitee. Man hat unsere Ankunft
also gemeldet“, bemerkte Kapitän Brown, der mit ihnen gekommen war, um die
Zollformalitäten abzuwickeln.
An der Spitze der kleinen Schar ging ein
Araber mit einem silbergrauen, sorgsam gestutzten Bart. Er trug einen weißen
Turban, eine weiße Tunika mit einem offenen schwarzen Burnus darüber und
flachen Pantoffeln. Sein von Sonne und Wind gegerbtes Gesicht strahlte die
Autorität eines Mannes aus, der Macht besitzt.
„Ist das der Kaid?“, fragte Sibylla.
Brown nickte kurz. „Eine hochgestellte
Persönlichkeit. Er gehört dem Makhzen an, der herrschenden Elite Marokkos, und
geht am Sultanshof ein und aus.“
Der andere Araber war ähnlich gekleidet, aber
jünger und hielt sich im Hintergrund, ebenso ein Mann in einem schwarzen Kaftan
und schwarzen Turban. Der vierte Mann, ein Europäer mittleren Alters in einem
gut geschnittenen Anzug aus feinem Tuch, trat vor. „Willkommen in Mogador, Mrs.
Hopkins, Mr. Hopkins.“ Er verbeugte sich. „William Willshire, britischer Konsul
und stets zu Ihren Diensten. Ich werde von seiner Exzellenz Kaid Hash Hash, dem
Statthalter von Mogador begleitet, seinem Übersetzter Nuri bin Kalil und Mr.
Philipps, dem Hafenmeister.“ Er deutete nacheinander auf die beiden Araber und
den dunkel gekleideten Mann.
Erregung stieg in Sibylla auf. Sie hatte sich
vorgenommen, einen möglichst guten ersten Eindruck auf die Bewohner dieses
Landes zu machen, nicht nur aus Höflichkeit, sondern auch, weil es den
Geschäftsbeziehungen nützen würde.
Lächelnd wandte sie sich dem Kaid zu und
sagte langsam und deutlich: „Asalamu alaikum – Friede sei mit euch.“
Sie erwartete, dass der Statthalter sich
freuen würde, in seiner Muttersprache begrüßt zu werden, doch zu ihrer
grenzenlosen Überraschung ignorierte der Mann sie. Er blickte an ihr vorbei,
als wäre sie gar nicht vorhanden, genau wie sein Übersetzer. Sibylla war
verwirrt. Hatte sie etwas Falsches gesagt und den Kaid gekränkt? Sie hatte
ihren Begrüßungssatz doch sorgfältig einstudiert! Hilflos drehte sie sich zu
Mr. Willshire, der ebenso hilflos mit den Schultern zuckte. „Seine Exzellenz
will Sie nicht beleidigen, Mrs. Hopkins, ganz im Gegenteil: Er würde sich nie
herausnehmen, Ihren Gatten zu brüskieren, indem er seine Frau anstarrt oder gar
das Wort an sie richtet. Er zeigt Ihnen beiden damit seine Ehrerbietung.“
„Oh“, flüsterte sie und dachte: Welch eine
Blamage!
Benjamin ärgerte sich, dass Sibylla
vorgeprescht war. Wollte sie, dass der Statthalter glaubte, in England zählte
ein Mann
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