Die Loewin von Mogador
willkommene
Abwechslung, auch wenn sich nur eine Handvoll Passagiere am Kapitänstisch
einfand. Über den Tischdecken hatte der Stewart Baumwollstreifen kreuz und quer
über die Platte gezogen und zusammengebunden. Wenn das Schiff im schweren
Seegang Schlagseite bekam, hatten die Stoffbahnen verhindert, dass Geschirr und
Gläser rutschten und ihr Inhalt sich auf den Schoß eines Passagiers ergoss.
Heute Morgen waren deutlich mehr Menschen zum
Frühstück gekommen, aber Emily und Victoria waren nicht dabei gewesen. Kapitän
Comstock jedoch hatte gutgelaunt verkündet, dass die Stürme hinter ihnen lagen,
denn sie hätten endlich den gemäßigteren Westwindgürtel erreicht.
Sabri sah den Kapitän am Heck neben einem
Matrosen stehen, der gerade mit dem Logscheit die Geschwindigkeit des Schiffes
maß. Dazu ließ er ein mit einem Holzscheit beschwertes Seil, das in festen
Abständen geknotet war, ins Wasser hinab. Ein zweiter Matrose, der eine Sanduhr
in der Hand hielt, stand auf der anderen Seite des Kapitäns.
„Vier Knoten!“, rief der Matrose mit dem
Logscheit, als die Sanduhr durchgelaufen war.
„Hm“, brummte Comstock und kaute auf dem
Mundstück seiner Tabakspfeife. „Bei diesem Wetter sollte die Queen leicht neun
Knoten schaffen.“ Er rieb seine Handflächen gegeneinander. „In die Wanten,
Männer, Segel setzen! Wir nehmen Fahrt auf! Die Truppe, die zuerst fertig ist,
kriegt am Abend eine Extraportion Rum!“
Der Bootsmann schrillte mit seiner Pfeife,
Stiefel polterten über das Deck. Matrosen kletterten rasch und behände in die
Masten.
Sabri rieb sich grinsend das Kinn. Viele
Jahre auf See hatten den Kapitän der Queen Charlotte hart und knorrig wie eine
alte Atlaszeder gemacht. Doch ganz offensichtlich genoss er den Respekt seiner
Mannschaft. Die Passagiere erzählten sich, dass er vor vielen Jahren durch sein
beherztes Eingreifen eine Meuterei auf diesem Schiff niedergeschlagen hatte.
Sie hatte den alten Kapitän das Leben gekostet, aber Comstock, damals noch
Steuermann, war vom Reeder für seinen Mut mit dem Kommando über die Queen
belohnt worden.
Sabri legte den Kopf in den Nacken und
blickte zu den Matrosen, die in schwindelerregender Höhe über ihm balancierten.
Schon rollten die ersten Segel herab und blähten sich knatternd im Wind. Der
wachhabende Matrose drehte das Stundenglas um und läutete dreimal die
Schiffsglocke: Halb zehn, und noch immer keine Spur von Emily. Sabri seufzte
sehnsüchtig und blickte aufs Meer hinaus.
„Wohin gehst du?“, fragte Victoria ihre
Schwägerin. Sie saß in Nachthemd und Schlafrock auf der Kante ihres Bettes und
bürstete ihr Haar.
Die Kabinen der Passagiere, die sich die
Unterbringung auf dem Achterdeck leisten konnten, waren durch dünne mit
Segeltuch bespannte Zwischenwände voneinander getrennt. Es war eng. Die Betten
hingen an Seilen von der Kabinendecke, um die Bewegungen des Schiffes besser
auszugleichen. Tisch, Stuhl, Schrank und Waschtisch hingegen waren fest am
Boden verschraubt. Dennoch war das Reisen hier wesentlich bequemer als in den
unteren Decks, wo die ärmeren Passagiere neben Vieh und Fracht in muffigen,
engen und feuchten Verschlägen hausten.
Emily, die Hand schon auf der Türklinke,
drehte sich um. „Ich möchte hinaus an Deck. Wenn drei Personen sich zwei Tage
auf engstem Raum übergeben, braucht man irgendwann frische Luft. Außerdem will
ich den Stewart bitten, uns etwas zu essen zu bringen.“
„Vielleicht kannst du uns auch Tee kochen
lassen“, schlug Victoria vor. Genau wie Emily war sie noch ziemlich blass und
hatte Ringe unter den Augen, aber verglichen mit Firyal ging es den beiden
Frauen blendend.
Die Dienerin litt von allen dreien am
schlimmsten unter der Seekrankheit und war außerstande gewesen, ihren Herrinnen
zu helfen. Wenn sie sich nicht übergeben musste, hatte sie sich
zusammengerollt, während sie Gebete und Koranverse vor sich hinwimmerte,
überzeugt, dass ihrer aller letzte Stunde geschlagen hatte. Nach zwei Tagen war
sie endlich vor Erschöpfung eingeschlafen und schnarchte leise auf ihrer Pritsche.
Emily schlüpfte durch die Tür. Essen zu
organisieren und frische Luft zu schnappen stellten natürlich nicht ihr
vordringlichstes Anliegen dar. Sie wollte Sabri suchen. Sie hatte ihn noch
nicht gesehen und sich die letzten zwei Tage voller Angst ausgemalt, dass er
sich doch noch anders entschieden hatte, dass er doch nicht mit ihr fliehen
wollte, sondern dem Wunsch seiner Eltern entsprechend die
Weitere Kostenlose Bücher