Die Loewin von Mogador
fliehen.“
Victoria schluckte. Wie grausam von Sabris
Familie, ihn zu verstoßen, nur weil er das falsche Mädchen liebte!
„Wollt ihr denn nie wieder nach Mogador
zurückkehren?“, erkundigte sie sich erschüttert.
Sabri hob hilflos die Schultern. Emily nickte
stumm und konnte nicht verhindern, dass ihr bei diesem Gedanken die Tränen
kamen.
„Das gefällt mir gar nicht“, murmelte
Victoria. Damit meinte sie sowohl Emilys und Sabris heimliche Flucht als auch
deren Plan, nie nach Mogador zurückzukehren. Sibylla hatte ihr auf dieser Reise
nun einmal die Rolle der Anstandsdame zugedacht, und diese wollte Victoria
erfüllen.
„Ich habe keine Ahnung, wie ich Mutter die
ganze Geschichte erklären soll. Es wird ihr das Herz brechen, wenn du nicht
wieder nach Hause kommst. Hast du darüber schon einmal nachgedacht?“, wollte
sie wissen.
„Daran denke ich die ganze Zeit.“ Emily
wischte sich über die Augen. „Aber was sollen wir denn tun?“
„Nun, zuerst einmal wirst du ihr schreiben
und ihr alles beichten. Deine Mutter wird enttäuscht sein, aber ich bin mir
sicher, dass sie trotzdem tun wird, was sie kann, damit ihr wieder nach Hause
könnt. Aber zuerst“, schloss sie mit all der Autorität, die einer Anstandsdame
zukam, „werdet ihr beide heiraten!“
„Wir hatten ohnehin vor, uns in London von
einem englischen Geistlichen trauen zu lassen“, versicherte Sabri.
„Und bis dahin soll ich auf euch beide
aufpassen?“ Victoria stemmte erneut beide Hände in die Hüften.
„Bei meiner Ehre, Sie können sich auf mich
verlassen, Mrs. Hopkins!“, erwiderte Sabri würdevoll.
Victoria dachte an die leidenschaftlichen
Küsse, die die beiden vor ihren Augen ausgetauscht hatten, und schüttelte
entschieden den Kopf. „Nein, das gefällt mir nicht, aber“ sie warf ihnen einen
pfiffigen Blick zu, „ich habe eine andere Idee. Rührt euch nicht von der Stelle
- ich bin gleich wieder zurück!“
Kapitel
dreiunddreißig – Mogador im Februar 1862
„Glauben Sie, Miss Emily und Miss Victoria
sind inzwischen in London angekommen, Herrin?“, fragte Nadira.
„Wie bitte?“, erwiderte Sibylla abwesend und
trank einen Schluck Minztee.
Es war noch früh am Morgen, und über Mogador
ging gerade eine blassgelbe Februarsonne auf. Sibylla war bereits angekleidet
und saß vor ihrem Frisiertisch, während Nadira dabei war, ihr das Haar
hochzustecken.
Für ihr Spiegelbild interessierte Sibylla
sich jedoch nicht. Sie hatte Tiegel, Flakons und Haarbürste beiseitegeschoben,
um für einen dicken Katalog Platz zu schaffen. Die Londoner Buchhandlung
Lackington Allen schickte ihr regelmäßig das neue Verzeichnis all ihrer Bücher,
und Sibylla wartete stets sehnsüchtig auf das dickleibige Werk vom Umfang eines
Bandes der Encyclopaedia Britannica.
Gestern war der Katalog endlich eingetroffen,
zusammen mit ihrer Bücherkiste und mehreren Ausgaben der London Times. Seither
blätterte sie in jeder freien Minute darin und kreuzte mit einem Bleistift alle
Titel an, die sie interessierten.
Die Dienerin wusste, dass ihre Herrin in
ihrer eigenen Welt weilte, wenn sie sich mit dem Katalog von Lackington Allen
beschäftigte. Aber das Leben im Haus war seit der Abreise von Emily, Victoria
und Firyal ein anderes geworden. Es war stiller und leerer, und Nadira
vermisste die vertrauten Gesichter.
„Heute vor zwei Monaten sind Miss Emily und
Miss Victoria an Bord gegangen“, setzte sie erneut an, während sie die beiden
auf dem Tisch bereitliegenden Perlmuttkämme nahm und in Sibyllas Frisur schob.
„Wie lange dauert es noch, bis sie in London eintreffen?“
„Bei guten Wetterverhältnissen müssten sie in
diesen Tagen ankommen. Emily wird mir sicherlich sofort schreiben. Aber bis ihr
Brief Mogador erreicht, vergehen einige Wochen.“ Sibylla beugte sich wieder über
ihren Katalog.
„Die Soldaten des Kaids haben den Safrandieb
immer noch nicht gefunden. Gewiss ist er mit seiner Beute schon über alle
Berge“, bemerkte Nadira.
Sibylla hob den Kopf. „Ich hoffe und bete,
dass er gefasst wird und seine gerechte Strafe empfängt!“, sagte sie ernst.
Weder der Einbruch in ihrem Riad noch der in ihrem Büro waren aufgeklärt und
bereiteten ihr schreckliches Kopfzerbrechen. Fast jede Nacht quälten sie
beängstigende Alpträume von einem schwarzen Schatten, der sie durch die Gassen von
Mogador verfolgte und ihr in den Zimmern ihres Hauses auflauerte.
„Wer bist du? Was willst du von mir?“,
bedrängte sie den Schatten
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