Die Loewin von Mogador
kann“, offenbarte Sibylla leise.
„Beim Allmächtigen!“, keuchte Nadira. „Unsere
Kleine kann doch ihre Familie nicht verlassen!“
Sibylla überlegte krampfhaft. „Ich frage
mich“, überlegte sie schließlich halblaut, „ob die Familie Abdul bin Ibrahim
einen ähnlichen Brief erhalten hat. Sabri ist der einzige Sohn des Hauses. Ich
kann mir nicht vorstellen, dass sie leichten Herzens auf ihn verzichten, nur
weil er ein christliches Mädchen geheiratet hat. Auch Sabri hat eine Mutter,
die gerade im Begriff ist, ihr Kind zu verlieren, und gewiss will sie sich
damit ebenso wenig abfinden wie ich!“ Energisch schob Sibylla ihren Stuhl
zurück und stand auf. „Ich werde mit Sabris Mutter sprechen. Nadira, du kommst
mit mir! Gemeinsam werden wir einen Weg finden, unseren Kindern zu helfen!“
„Ich habe immer geglaubt, Mogador zu kennen,
aber in dieser Gasse bin ich noch nie gewesen“, sagte Nadira zu ihrer Herrin.
Obwohl sie es eilig hatten, zum Haus von
Sabris Familie zu gelangen, schauten Sibylla und Nadira auf ihrem Weg immer
wieder neugierig nach rechts und links.
Je näher sie der Moschee kamen, desto
deutlicher wurde, dass sie sich im Viertel der Religion und Gelehrsamkeit
befanden. Buchhändler und Buchbinder, Kalligraphen und Miniaturmaler hatten
hier kleine Läden und Werkstätten. Vor dem Eingang zum Gotteshaus bot ein
Händler Gebetsteppiche und bestickte Gebetskappen an. Ihm gegenüber hatte ein
Instrumentenbauer seinen Stand. Zufrieden eine Wasserpfeife rauchend, stand er
zwischen großen und kleinen Trommeln, Flöten, Zithern und Lauten, die Gläubige
für Feiertagsprozessionen erwerben konnten.
Die beiden Frauen umrundeten die Moschee und
kamen zu einem Haus, dessen Tür und Dachziegel im heiligen Grün des Islam
anzeigten, dass sich hier die Zaouia der Stadt befand. Ein Schild neben der Tür
ermahnte den Besucher, diesen erhabenen Ort nur den religiösen Vorschriften
entsprechend gereinigt und in respektvoller Haltung zu betreten. Durch ein
offenes Fenster im oberen Stockwerk hörten Sibylla und Nadira eine tiefe
Männerstimme, die aus den Hadithen zitierte: „Manchmal kommt die Offenbarung zu
mir wie der Klang einer Glocke, und dies ist für mich die schwerste Art…“
„Wenn Hadj Abdul wüsste, wie wahr seine Worte
sind“, bemerkte Sibylla trocken und schaute zum Fenster, wo über ihr nun der
Chor heller Jungenstimmen den Text des Lehrers wiederholte.
Das Haus der Familie Abdul bin Ibrahim lag
direkt neben der Zaouia. Ganz ähnlich wie Sibyllas Haus war es zweistöckig,
strahlend weiß gekalkt, besaß zur Straßenseite hin keine Fenster und hatte eine
blau gestrichene Holztür.
Nadira trat vor und pochte an die Tür. „El
Sayyida Sibylla wünscht el Sayyida Almaz zu sprechen“, erklärte sie dem
Wächter, der aus der Luke schaute.
Er verschwand, und wenig später wurden sie
von einer Sklavin in Empfang genommen, die sie quer über den Innenhof zum
Wohnbereich der Frauen des Hauses Abdul bin Ibrahim führte.
Im Gegensatz zum Harem des Kaids zeigte der
private Bereich der Frauen hier sich einfach und schmucklos. Ihr Wohnraum war
quadratisch und nicht besonders groß. Von der Decke hing ein schwerer
geschmiedeter Leuchter, Koranzitate auf den weiß gekalkten Mauern bewiesen, dass
man sich im Haus tief gläubiger Menschen befand. Auf dem dunklen Holzboden
lagen gewebte Läufer, an den Wänden standen Sofas, davor befand sich ein
niedriger Tisch mit einer Keramikschale, in der Datteln und kandierte Mandeln
angerichtet waren. Ein kunstvoll geschnitzter Zedernholztisch, auf dem eine in
Leder und Gold geprägte Ausgabe des heiligen Buches der Muslime lag,
verkörperte den einzigen Luxus. Seidene Teppiche, silberne Leuchter, aufwendig
glasierte Wandkacheln oder Kristallspiegel, die den Harem von Kaid Samir so
heiter und sorglos erscheinen ließen, fehlten hier völlig.
Sibylla erkannte Sabris Mutter sofort, denn
sie kennzeichnete die karamellbraune Haut, die großen dunklen Augen und
klassisch schönen Gesichtszüge einer Abessinierin. Folglich musste die
rundliche kleine Araberin, deren mit goldenen Ringen geschmückte Finger ihr
demütiges schwarzes Gewand Lügen straften, Hadj Abduls erste Frau sein. Die
beiden Ehefrauen des Hausherrn saßen so weit voneinander entfernt, wie es in
dem kleinen Raum möglich war, und würdigten sich keines Blickes.
Auf einem Diwan zwischen ihnen lagerten drei
junge Frauen. Sie trugen farbenfrohere Gewänder und blickten den Besucherinnen
aus
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