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Die Loewin von Mogador

Die Loewin von Mogador

Titel: Die Loewin von Mogador Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Drosten
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Mogador im Dezember 1839
     
    „Will haben, Tom! Gib her! Mummy!“ Der Rest
ging in jämmerlichem Weinen unter.
    Sibylla seufzte, legte den Brief, den sie
gerade geöffnet hatte, auf den Tisch und ging auf den Umgang. „Was ist denn nun
schon wieder los? Tom, hast du deinen kleinen Bruder geärgert?“
    Der dreijährige Thomas blickte zu seiner
Mutter auf. Neben ihm stand der knapp zweijährige John und heulte erbärmlich.
    „Mummy, will haben!“ Anklagend zeigte er auf
Tom, der sein angebissenes Gebäckstück außer Reichweite des kleinen Bruders
hielt.
    Sibylla musste sich ein Lächeln verkneifen.
Die beiden sahen in ihren kleinen Kaftanen über den langen Hosen so süß aus,
besonders Johnny, der seinen Babyspeck noch nicht verloren hatte. Alles an ihm
war rund und knuddelig, und seine verheulten Augen blickten völlig verzweifelt
drein. Wie sein großer Bruder hatte er hellblondes lockiges Haar und tiefblaue
Augen, aber ein rundes rotbackiges Gesicht. Tom war größer und schlanker mit
empfindsamen Zügen, die ihn älter als seine drei Jahre aussehen ließen.
    John war nur fünfzehn Monate jünger als sein
Bruder. Sibylla hatte Benjamin gedrängt, dass sie noch ein Baby wollte, am
liebsten ein kleines Mädchen, und sie hatte sich gefreut, als sie kurz nach der
Geburt von Thomas wieder schwanger geworden war. Das Kind war ein Junge
geworden, und als Sibylla das runde rosige Baby zum ersten Mal im Arm hielt,
hatte sie völlig vergessen, dass sie sich eigentlich ein Mädchen gewünscht
hatte.
    „Hast du deinem Bruder sein Hörnchen
weggenommen, Tom?“, fragte Sibylla.
    „Nein, Mummy!“ Tom schüttelte heftig den
Kopf. „Er hat es ins Wasserbecken fallen lassen, und Papas Karpfen haben es
gefressen.“
    „Stimmt das, Johnny?“ Sibylla blickte in das
Becken, in dem Benjamins ganzer Stolz, fette goldfarbene Karpfen, gemächlich
ihre Kreise zogen.
    Der Kleine nickte unter Tränen. Essen war
eine seiner liebsten Beschäftigungen, und die süßen Gazellenhörnchen mit
Mandelfüllung und Puderzucker, die Nadira den Kindern gebracht hatte, mochte er
besonders gern.
    „Habe ich dir nicht immer wieder gesagt, dass
du dich hinsetzen und in Ruhe essen sollst, John? Dann fällt dir auch nichts
herunter“, ermahnte Sibylla ihren jüngeren Sohn.
    „Aber Hunger, Mummy“, klagte Johnny.
    „Es gibt jetzt nichts. Du musst bis zum
Mittagessen warten, Liebling. Geht wieder spielen!“
    Der Kleine verzog das Gesicht. Gleich würde
er wieder weinen.
    „Hier.“ Tom brach den Rest seines Hörnchens
in zwei Teile und gab ein Stück seinem Bruder, der es sofort in den Mund
stopfte. Sibylla wurde warm ums Herz. „Das war sehr lieb von dir, mein Schatz.“
    Tom kümmerte sich nicht nur rührend um seinen
kleinen Bruder. Er war stets darum besorgt, dass es allen um ihn herum gut
ging. Seiner Mutter und seinem Vater, Firyal, Nadira und allen anderen
Dienstboten. Er fragte seine Mutter sogar, ob die Bettler auf den Gassen genug
zu essen und ein Bett zum Schlafen hätten, so wie er.
    Sibylla war sehr dankbar, dass ihr
Erstgeborener sich so gut entwickelte. Nach seiner Geburt hatte sie keine Milch
gehabt. Thomas war mit Eselsmilch großgezogen worden, die sie ihm über viele
Monate tröpfchenweise aus einer Schnabeltasse eingeflößt hatte. Die Eselstute
hatte Rouston organisiert, noch während Sibylla sich in der Karawanserei von
der Niederkunft erholte. Außerdem hatte er sie und das Neugeborene sicher nach
Mogador zurückgebracht. Benjamin, der Schiffe aus London erwartet hatte, konnte
nicht bei ihr bleiben. Sie hatte ihn selbst gedrängt, abzureisen, aber tief im
Innern war sie enttäuscht gewesen, als er sie tatsächlich in der Karawanserei
zurückgelassen hatte. Andererseits hätte sie sonst nie erfahren, was für ein
amüsanter und kurzweiliger Unterhalter André Rouston war. Während sie mit dem
Baby wieder auf der Bahre lag und von vier Sklaven getragen wurde, ritt er
neben ihr her und plauderte. So hatte sie erfahren, dass er nach dem Ende des
Krieges mit Algerien den Maghreb bereist hatte. Seine Schilderungen von
Begegnungen mit kriegerischen Berberstämmen, weisen arabischen Gelehrten und
orientalischen Fürsten, die in unvorstellbarem Prunk und Luxus lebten, waren so
lebendig, dass Sibylla das Gefühl hatte, selbst dabei gewesen zu sein.
Besonders spannend fand sie, dass er als Muslim verkleidet Moulay Idriss
besucht hatte, die heiligste Stadt Marokkos, die im nördlichen Atlasgebirge auf
der Pilgerroute nach Mekka

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