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Die Loewin von Mogador

Die Loewin von Mogador

Titel: Die Loewin von Mogador Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Drosten
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lag.
    „John!“, rief Sibylla und beugte sich über
die Brüstung des Umgangs. „Bedank dich bei deinem Bruder, dass er dir von
seinem Hörnchen abgegeben hat, hörst du?“
    „Danke, Tom“, mümmelte der Kleine mit vollen
Backen. Dann streckte er die zuckerverklebte Hand aus. „Will mehr!“
    Tom lachte spitzbübisch. „Hol’s dir doch!“ Er
rannte los, John ihm auf den Fersen.
    Sibylla sah ihnen zu, wie sie erst den alten
Olivenbaum umrundeten und dann auf die Sonnenuhr zustürmten, die Benjamin vor
mehr als zwei Jahren erworben hatte, um ein besonders lukratives Geschäft zu
feiern. Zu Sibyllas Verwunderung hatte er sogar eigenhändig ein Fundament für
die Sonnenuhr gegraben. Gewöhnlich erwärmte ihr Mann sich nicht für körperliche
Arbeit. Als die Uhr zusammengesetzt, poliert und richtig ausgerichtet im
Innenhof des Riad stand, hatte er den blau-weiß-roten Union Jack daneben in die
Erde gerammt und den Kaid zur Besichtigung eingeladen. Sibylla erinnerte sich
noch genau, wie stolz er seine kostbare Uhr vorgeführt hatte. Für seine Söhne
bildete sie vor allem ein wunderbares Klettergerüst – sehr zu Benjamins
Verdruss.
    „Lasst Papas Sonnenuhr in Ruhe, habt ihr
gehört?“, rief Sibylla prompt, als Tom auf den Sockel sprang. Benjamin war zwar
nicht da – je besser seine Geschäfte liefen, desto weniger Zeit verbrachte er
mit seiner Familie –, aber sie wollte trotzdem keinen Ärger riskieren.
    Zum Glück konnten die Jungen sich in Mogador
das ganze Jahr über draußen austoben. Sogar jetzt, Anfang Dezember, war es hier
so mild wie in England im Frühling. Im Innenhof des Riad blühten Rosen, die
Bougainvillea verströmte immer noch ihren betörenden Duft, und an den
Orangenbäumchen, die Sibylla rechts und links des hölzernen Treppenaufgangs
hatte pflanzen lassen, hingen saftige Früchte. Sie fand es herrlich, dass sie
auf Stiefel und Muff, Pelzkappe und langen Mantel verzichten konnte. Wenn sie
ins Freie ging, schlang sie sich nur ein Tuch um die Schultern und fror
trotzdem nicht. Dafür nahm sie gern in Kauf, dass der ständige Wind Sand und
Staub ins Haus trieb.
    Sie kehrte in ihr Zimmer zurück. Während in
ihrer alten Heimat jetzt die Kamine rauchten, reichte hier ein kupfernes
Kohlebecken, um den Raum zu wärmen. Sie ging zu einer Schale, die neben dem
Becken auf einem kleinen Tisch stand, nahm ein Bröckchen Duftharz heraus und
warf es in die Glut. Kurz darauf erfüllten die würzigen Aromen von Amber und
Muskat den Raum. Sibylla schloss die Augen, und vor ihrem inneren Auge erwachte
die geheimnisvolle Welt des Orients zum Leben. Sie liebte das Leben hier – im
Gegensatz zu Benjamin, der alles mit Misstrauen betrachtete.
    Sie setzte sich auf den Diwan und nahm den
Brief erneut zur Hand. Er war von ihrer Stiefmutter und zusammen mit mehreren
Ausgaben der Times und einer Bücherkiste mit dem gestrigen Postschiff
eingetroffen. Mary stellte Sibyllas zuverlässigste Verbindung mit England dar.
Sie berichtete ihrer Stieftochter alles, was sich in London ereignete. Zurzeit
bereitete man sich auf das Gesellschaftsereignis des Jahrhunderts vor – die
Hochzeit der jungen Königin Victoria mit dem Deutschen Prinzen Albert von
Sachsen-Coburg und Gotha. Mary und Richard waren jede Woche zu Bällen und
Empfängen eingeladen, die zu Ehren des Paares gegeben wurden, und Mary klagte,
dass die Schneiderin und die Modistin nicht mehr mit dem Anfertigen von
Schleppen, Roben, Hüten und Handschuhen nachkamen. Außerdem sorgte sie sich um
Richards Gesundheit. Er hatte letztes Jahr zwar erst seinen fünfzigsten
Geburtstag gefeiert, litt aber unter Schwindel, war kurzatmig und schlief
schlecht. Im nächsten Sommer, schrieb sie, wollte sie mit ihm zum Kuren nach
Bath fahren, das dank der neuen Eisenbahnverbindung dann viel schneller und
bequemer als noch vor wenigen Jahren zu erreichen wäre.
    Sibylla faltete den Brief zusammen und legte
ihn auf den Tisch. Dann stand sie auf, rückte den Diwan ein Stück von der Wand
weg und entfernte schließlich ein loses Brett von der Rückseite des hölzernen
Rahmens. Dahinter befand sich ihr geheimes Fach. Sie langte hinein und zog ein
rechteckiges Kästchen aus Rosenholz und Perlmutt hervor. An der Vorderseite war
ein kleines Schloss angebracht. In diesem Kästchen bewahrte sie das Geld auf,
das sie mit ihren Handelsgeschäften verdiente. Zuerst die sechzig
Gold-Benduqui, die Rusa und Lalla Jasira ihr für die englischen Slipper gezahlt
hatten, inzwischen auch alle

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