Die Loewin von Mogador
schickt sich nicht. Ich wollte immer die Welt
bereisen und all das, was ich nur aus Büchern kannte, mit meinen eigenen Augen
sehen, mit meinen eigenen Händen berühren. Deshalb habe ich Benjamin auch so
unterstützt, als er sich um den Posten eines Handelsbevollmächtigten in Marokko
bemühte. Ich habe durchgesetzt, dass ich mitkommen durfte, und mir so einen
Teil meiner Sehnsucht erfüllt. Ich werde später einmal behaupten können, in
einem Land wie aus 1001 Nacht gelebt zu haben. Das können nicht einmal viele
europäische Männer von sich sagen.“
„Du könntest ein Buch darüber schreiben – die
wahren und einzigartigen Abenteuer einer englischen Kaufmannsfrau in Marokko“,
schlug André lächelnd vor.
Sie zog ihn scherzhaft an den Haaren. „Mach
dich nicht über mich lustig!“
„Ich meine es vollkommen ernst!“
„Du glaubst also, ich könnte etwas Ähnliches
schreiben wie Lady Montagu, deren Mann im letzten Jahrhundert Botschafter am
osmanischen Hof war?“ Sibylla wurde ganz aufgeregt bei dem Gedanken.
„Ich kenne Madame Montagus Bericht nicht,
aber bien sûr, warum nicht? Du hast viel gesehen und erlebt…“
Er ergriff ihre Hand und küsste jede
Fingerspitze. Sie beugte sich über ihn, liebkoste mit ihren Lippen seinen
Haaransatz, die Schläfen, die Ohren und den Hals. Er stöhnte auf, zog sie mit
beiden Armen neben sich und presste seinen Mund hungrig auf ihre warmen weichen
Lippen. Als er endlich von ihr abließ, schüttelte er den Kopf, ein kleines
Lächeln im Gesicht, so als wunderte er sich über sich selbst.
„Ich erinnere mich noch genau, wie du in
Marrakesch vor dem Sultan gestanden hast, mutig genug, seinen Blick zu
erwidern. Schon damals habe ich mich gefragt, wer diese Frau ist, aber nie
hätte ich gedacht, dass wir uns einmal so nahekommen.“
Sibylla richtete sich auf und strich sich die
Haare glatt. Die Heftigkeit seiner Küsse, noch mehr aber ihre eigene
Unersättlichkeit hatten sie völlig verwirrt. Erneut kamen ihr Zweifel, ob der
Weg, den sie gerade einschlug, der richtige war.
„Die Lieblingskonkubine des Statthalters
stand neben mir auf dem Dach, als ihr die Schießübungen am Strand gemacht habt.
Sie hat sofort gemerkt, dass du mir etwas bedeutest. Waren wir unvorsichtig,
uns hier zu treffen?“
Er seufzte. Ein kleiner dunkler Schatten
hatte sich über ihren sorglosen Nachmittag gelegt. „Es ist das Einzige, was wir
tun können“, sagte er wie schon in dem Hof der Bäckerei. „In den Augen der
Menschen oder der Kirche tun wir etwas Unrechtes, das ist wahr. Aber ich für
meinen Teil würde gern vor der ganzen Welt verkünden, dass du meine Frau bist.“
Und er konnte sich nicht zurückhalten, zu fragen: „Liebst du deinen Mann?“
Sibylla lachte kurz auf. Sie beugte sich über
André, und er spürte ihren warmen süßen Atem auf seinen Lippen. „Du bist
eifersüchtig, André Rouston, und das gefällt mir“, flüsterte sie.
Er umfasste ihre Taille mit einem Arm und zog
sie noch enger an sich. „Warum beantwortest du meine Frage nicht?“
Liebe, das wusste sie längst, hatten weder
bei Benjamin noch bei ihr eine große Rolle gespielt, als sie beschlossen
hatten, zu heiraten. „Anfangs hatte ich gehofft, wir könnten Kameraden werden“,
erklärte sie ihm schließlich. „Besonders hier in diesem Land, in dem es so
wenige Europäer gibt. Aber je mehr Zeit vergeht, desto fremder wird Benjamin
mir. Ich verstehe es selbst nicht.“
Sie zupfte ein Stück von dem Fladenbrot, das
André mitgebracht hatte, und steckte es sich in den Mund. „Wir haben genug über
mich geredet. Erzähl mir von dir! Was für ein Mann bist du?“
Er stützte sich auf einen Ellbogen, nahm sein
Weinglas und trank den letzten Schluck. Der Geschmack ließ lang vergessene
Erinnerungen an Frankreich wach werden, an seine Kindheit und Jugend im
ländlichen Süden.
„Ich bin nicht so behütet aufgewachsen wie
du“, begann er, nach Worten suchend. „Im Frankreich während der Restauration
war es nicht leicht für einen armen Bauernjungen. Ihr Engländer könnt über
Napoleon sagen, was ihr wollt, aber unter ihm hatten auch kleine Leute eine
Chance. Nachdem Napoleon fort war, drehten die Bourbonen die Zeit wieder
zurück, und das haben wir zu Hause gespürt. Bei uns war immer alles knapp,
Nahrung, Kleidung, Leder für Schuhe und Stiefel, ein warmer Mantel. Dabei waren
meine Eltern freie Bauern. Im Département Lot besitzt unsere Familie seit
sieben Generationen einen kleinen Hof.
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