Die Loewin von Mogador
Angeln
quietschten, dann wurde die Tür geöffnet, und eine Gestalt schob sich durch den
Spalt. Einen kurzen Moment fiel das Sonnenlicht in einem breiten Streifen in
den Kirchenraum, und in dem Schein erkannte er die Silhouette einer Frau. Dann
fiel die Tür hinter ihr zu, und die Gestalt verschwamm mit dem Zwielicht unter
dem Portal.
„André?“ Leise, unsicher fragend hörte er
ihre Stimme.
„Sibylla!“ Er stand auf und kam ihr entgegen.
Eine Taube flatterte empor und verschwand durch eines der Löcher im Dach. Dann
lagen sie sich in den Armen.
„Tu es là!“, flüsterte er. „Mon dieu, wie
habe ich auf dich gewartet!“ Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie,
und sein Glück kannte keine Grenzen, als sie ihre Arme um ihn warf und ihn
ebenfalls küsste.
„Pardon“, brachte er hervor, als sie sich
endlich voneinander gelöst hatten. „Aber ich konnte nicht anders.“
Sie schüttelte den Kopf und legte einen
Finger auf seine Lippen. „Danke für die Orangen“, flüsterte sie.
„Ist dir jemand gefolgt? Dein Mann
vielleicht?“ Er blickte besorgt zur Tür.
„Benjamin ist seit Wochen auf Geschäftsreise
in Fès und Marrakesch. Hier in der Gasse waren ein paar Kaufleute, die zum
portugiesischen Konsulat wollten. Ich hoffe, sie haben mich nicht erkannt.“
Er streckte eine Hand aus und zog den Schal
von Sibyllas Haar. Wie immer war sie ähnlich wie die einheimischen Frauen
gekleidet: In eine Tunika aus silbergrauem bestickten Damast und eine weite
Hose, die Chalwars. Ihre zerzauste Frisur bildete dazu einen reizvollen
Kontrast. Verheiratet oder nicht, noch nie hatte ihn eine Frau so in ihren Bann
gezogen!
André räusperte sich. „Wenn irgendwelche
Leute dich erkannt haben, dann nur an deinen blauen Augen. Aber sobald du sie
ansiehst, wird es ihnen gehen wie mir, und sie verlieren den Verstand.“
Sie schwieg verlegen. Benjamin machte ihr nur
selten Komplimente. Fand André sie wirklich schön oder gar verführerisch?
Er nahm ihre Hand, drehte sie um und bedeckte
die Handfläche mit Küssen. „Ich bin so froh!“, wiederholte er noch einmal. Dann
führte er sie zu dem steinernen Sockel. Sie blickte sich neugierig um.
„Ich wohne schon so lange in Mogador, aber
ich habe nicht gewusst, dass es diese Kirche gibt.“
„Kaum jemand weiß es. Deshalb sind wir hier
auch völlig ungestört“, versicherte er.
„Du meine Güte!“, rief sie aus, als sie den
Teppich und den Korb entdeckte, aus dem der Hals der Weinflasche ragte. „Was
hast du gemacht?“
Er lachte nur. Dann umfasste er sie mit einem
raschen Griff und hob sie hoch.
„Huch!“ Sie schlang beide Arme um seinen Hals
und strahlte ihn an, während er sie auf die Erhöhung trug und dann behutsam auf
den Teppich gleiten ließ. Er setzte sich dicht neben sie und nahm die
Weinflasche und einen Korkenzieher aus dem Korb.
„Worauf willst du trinken?“, fragte er und
füllte zwei Gläser, die er ebenfalls mitgebracht hatte. Sie nahm ihres und
hielt es ins Licht, so dass die Flüssigkeit darin wie dunkler Granat leuchtete.
„Darauf, dass ich dich getroffen habe“, antwortete sie leise und blickte ihm in
die Augen.
Die Sonne war fast hinter dem Westwerk der
Kirche verschwunden, das Licht, das durch das zerborstene Dach der Ruine fiel,
färbte sich grau, aber sie konnten sich nicht voneinander trennen. Es war, als
versuchten sie, die Zeit zu vergessen und das Einzigartige zwischen ihnen für
immer festzuhalten.
Sibylla saß auf dem Teppich, André lag mit
dem Kopf in ihrem Schoß, und sie zerzauste seine schwarzen Locken. Sie hatten
gegessen und getrunken und sich endlos geküsst. Doch André hatte keinen Versuch
unternommen, sie zu mehr zu drängen, und Sibylla war deshalb froh. Sie hätte
sich ihm hingegeben, denn der Wein hatte sie heiter und gelöst gemacht. Aber
sie verspürte auch Angst. Es war so nüchtern gewesen, wenn Benjamin ihr Bett
geteilt hatte, der Vorgang selbst hatte ihr sogar Schmerzen bereitet. Was, wenn
es mit André genauso war? Sie wusste, das würde alles zwischen ihnen zerstören.
Stattdessen hatte André sie ausführlich nach ihrem Leben befragt. Er
interessierte sich dafür, wie sie aufgewachsen war. Sie erzählte ihm, wie
sicher und beschützt sie in London gelebt hatte.
„Ich hatte es gut, aber ich war nie
zufrieden“, berichtete sie. „Ich habe nie verstanden, warum mein jüngerer
Bruder so viele Freiheiten besaß, während ich immer zu hören bekam: Das tut
eine junge Dame nicht, das
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