Die Loewin von Mogador
drängen?“
„Ich musste etwas tun! Die Kinder und ich
müssen essen, die Dienstboten müssen bezahlt werden!“ Sie war enttäuscht. Warum
lobte er sie nicht? Immerhin sorgte sie dafür, dass die Geschäfte weiterliefen.
Doch sie zwang sich, ihre bitteren Gefühle beiseitezuschieben.
„In London weiß niemand, was passiert ist.
Ich habe Vater nur geschrieben, dass ich einige Zeit für dich einspringe. Aber
ich brauche deinen Rat, Benjamin. Ich habe so viele Fragen.“
Er legte eine Hand auf ihren Arm. Die Haut
war rauh und rissig, die Fingernägel schwarz gerändert: „Du bist so sauber“,
sagte er leise, „so unglaublich sauber.“ Er schüttelte sich, als wollte auch er
schlechte Gedanken vertreiben. „Erst einmal werde ich mich waschen. Und dann
besprechen wir alles.“ Er klatschte in die Hände. „Wo sind meine Wachhunde? Ich
brauche Wasser! Viel Wasser!“
Sie saßen nebeneinander auf einem Flecken
Gras am Meeresufer. Irgendwo hinter ihnen auf einer der Bastionen brüllte der
Kommandant. Ratternd und quietschend wurden Kanonen vor Schießscharten
positioniert. Aber vor ihnen lag glatt und silbern der Atlantik, eine endlose
Fläche, leer bis auf ein paar Fischerboote.
„Weißt du, was sie dort auf der Bastion
tun?“, fragte Sibylla.
Benjamin schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung.
Das geht schon seit Wochen so. Vielleicht ist ihnen genauso langweilig hier wie
mir.“
Er hatte sich gewaschen und frische Kleidung
angezogen. Sibylla hatte sein verfilztes Haar entwirrt. Abgesehen von dem
langen Bart glich Benjamin schon wieder ein wenig dem Mann, den sie kannte.
„Als ich drei Tage hier war, habe ich
versucht, zu fliehen“, erzählte er.
Sie war entsetzt. „Wie bitte?! Als ob wir
nicht schon genug Schwierigkeiten hätten!“
Er grinste sie von der Seite an. „Ich bin ins
Wasser gesprungen und wollte mich zu einem englischen Handelsschiff
durchschlagen, das nicht weit von hier ankerte. Ich bin ein guter Schwimmer,
oder hast du unser gemeinsames Bad im Londoner Hafenbecken schon vergessen?
Leider waren die Neger, die in ihrem Boot hinter mir her waren, schneller als
ich. Der Kommandant hat getobt. Drei Wochen hat er mich eingeschlossen.
Inzwischen lässt er mich wieder raus. Aber seit meinem Fluchtversuch bewachen
sie mich besser – und das Boot auch.“
Sibylla beobachtete zwei kleine smaragdgrüne
Eidechsen, die sich auf dem warmen Erdboden sonnten. „Wie behandeln sie dich
sonst?“
Er zuckte mit den Schultern. „Sie lassen mich
in Ruhe. Wir können uns ohnehin kaum verständigen. Weder Mauren noch Neger
sprechen englisch, und mein Arabisch kennst du ja.“
„Und was machst du den ganzen Tag?“
„Jeden Morgen umrunde ich die Insel. Dafür
brauche ich zwei Stunden. Der Rest des Tages ist ziemlich eintönig“, erwiderte
er unbestimmt.
Er wollte ihr nicht erzählen, dass er vor
lauter Einsamkeit langsam wunderlich wurde, halblaute Gespräche mit den
Kaninchen führte, die überall ihre Baue gruben, und versuchte, den Mäusen, die
durch seine Kammer huschten, Kunststücke beizubringen.
„Unternimmt Willshire überhaupt etwas, um
mich rauszuhauen? Ich muss von dieser Insel runter, verdammt noch mal!“, brach
es aus ihm hervor. „Du musst rauskriegen, was die mit mir planen! Letzte Nacht
habe ich geträumt, dass der Sultan mich enthaupten lässt!“
„Willshire hat einen Brief an Generalkonsul
Drummond-Hay in Tanger geschickt, damit er offiziell gegen deine Festnahme
protestiert“, versuchte Sibylla, ihn zu beruhigen. „Aber ein bisschen musst du
noch durchhalten. Wir wissen doch, dass die Uhren im Orient anders gehen.“
„Hör mir damit auf! Ich will weg von dieser
Insel! Schreib deinem Vater, schreib der Königin, besteche den Kaid, aber tu
etwas!“
„Der Kaid hat sich schon bedient. Seine Leute
haben unser Haus durchsucht und das ganze Bargeld mitgenommen!“
„Was?!“ Benjamin packte ihren Arm. „Wo haben
sie gesucht? Was haben sie gefunden?“
„Au! Du tust mir weh!“ Sie versuchte
vergeblich, sich zu befreien. „Deine Kasse haben sie mitgenommen und das Geld,
das ich durch meinen Handel mit den Frauen des Statthalters verdient habe!“
„Mehr nicht?“
„Wie meinst du das? Es war das ganze Bargeld,
das wir hatten!“
„Ja, ja. Ich dachte an Möbel, Porzellan und
Ähnliches“, erklärte er hastig.
„Es reicht doch auch so, oder? Und jetzt lass
mich endlich los! Im Übrigen reite ich morgen früh zum Sultan nach Marrakesch
und werde ihn bitten,
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