Die Loewin von Mogador
die Soldaten sie zur Festungsanlage. Sultan Sidi
Mohammed Ben Abdallah hatte Ende des letzten Jahrhunderts die ersten Mauern aus
grauem Stampflehm errichtet. Sein Nachfahre Moulay Abd Er Rahman hatte sie zu
vier kanonenbewehrten Bastionen und einer Moschee erweitert. Sibylla fiel auf,
dass es von Soldaten wimmelte. Sollten die Franzosen wirklich vorhaben, Mogador
anzugreifen, würden sie auf entschiedenen Widerstand treffen.
Sie beschloss, Benjamin nichts davon zu
erzählen, dass der Stadt vielleicht ein Krieg drohte. Sie wollte ihn nicht noch
zusätzlich beunruhigen. Sie schlang sich ihren Schal fest um den Kopf, denn der
Wind wehte hier erheblich stärker als auf dem Festland. Außer ein paar
zerzausten Tujabäumen wuchsen auf der Insel noch Wacholder, Gras und niedrige
Flechten, die winzige gelbe und weiße Blüten trugen. Sonst gab es nur Felsen,
Sand, Kaninchenlöcher und Soldaten.
Benjamins Zelle befand sich im Innenhof der
Westbastion. Zu Sibyllas Überraschung war die schwere Holztür geöffnet. Aber
wohin hätte er von hier aus auch fliehen sollen? Sie stand vor einem kleinen
rechteckigen Raum. Der Boden und die Wände bestanden aus festgestampftem Lehm,
Tageslicht fiel außer durch die Tür noch durch ein schmales Loch, nur etwas größer
als eine Schießscharte hoch oben an der Stirnseite. Sibylla erblickte einen
klobigen Tisch mit einem Wasserkrug und einer Öllampe. Dann sah sie Benjamin.
Er saß auf dem Bett aus einem einfachen Holzrahmen mit einer Strohmatratze
darauf und balancierte eine Tonschale mit Couscous auf den Knien, sein
Frühstück.
„Guten Tag, Benjamin.“
„Sibylla!“ Er sprang auf. Die Schale rutschte
von seinen Knien und zerschellte auf dem Boden. Sibylla sah entsetzt, wie eine
Maus unter dem Bett hervorsauste und sich über die Reste der einfachen Mahlzeit
hermachte. Aber Benjamin achtete nicht darauf.
„Endlich kommst du! Ich dachte schon, du
lässt mich hier verschimmeln. Was ist, kann ich gehen? Lässt der Kaid mich
laufen?“ Er stürzte auf sie zu.
„Lass dich doch erst einmal anschauen!“ Sie
wollte ihm nicht gleich im ersten Satz mitteilen, dass seine Gefangenschaft
noch nicht zu Ende war, denn sein Anblick hatte sie erschreckt. Es fehlte nicht
viel, und sie hätte ihren eigenen Mann nicht wiedererkannt! Er war so mager
geworden, dass der mit Flecken übersäte Anzug an seinem Körper schlotterte.
Seine Wangen waren eingefallen, die Augen lagen tief in den Höhlen. Das Haar
war lang und strähnig, das halbe Gesicht von einem verfilzten Bart bedeckt. Sie
roch die Ausdünstungen seines ungewaschenen Körpers und hielt unwillkürlich
Ausschau nach Flöhen und Läusen. Von dem Benjamin, der maßgeschneiderte Anzüge,
seidene Westen und mit Diamanten besetzte Krawattennadeln trug, der täglich
badete und seine Hände maniküren ließ, bis sie weicher waren als die einer
Frau, war nicht viel übrig!
„Ich habe dir etwas mitgebracht.“ Sie stellte
ihren Korb auf den Tisch.
Hastig durchwühlte er den Inhalt. „Seife?
Bücher? Wäsche? Heißt das, ich muss noch länger hierbleiben? Hast du dich
überhaupt um meine Freilassung bemüht?“ Er klang gereizt.
„Eigentlich habe ich die meiste Zeit Tee
getrunken und gepicknickt. Leider war ich ein bisschen allein, weil ich keine
Freundinnen mehr habe, seit sie glauben, dass mein Mann mit Sklaven handelt“,
gab sie verärgert zurück.
Rasch lenkte er ein. „Reg dich nicht auf, so
habe ich es doch nicht gemeint!“
„Das Rasiermesser musste ich abgeben“, fuhr
sie nach einer kurzen Pause fort. „Aber der Kommandant hat mir gegen ein paar
Dirham versprochen, es dir jeden Morgen zu geben, damit du dich rasieren
kannst. Nötig hast du es, weiß Gott!“
Benjamin griff nach einer der Zeitungen und
überflog die Schlagzeilen: „In England steigen die Eisenbahnaktien. Genau wie
ich vorausgesagt habe! Wenn ich hier nicht festsitzen würde, würde ich investieren.
In der Eisenbahn liegt die Zukunft, das spüre ich bis in meinen linken kleinen
Zeh! Aber ich darf mich ja noch nicht einmal um die Geschäfte kümmern, und in
der Karawanserei verrotten fünfzig Kamelladungen Leder. Die Firma Spencer &
Sohn in Mogador wird bald bankrott sein.“
„Wird sie nicht“, eröffnete Sibylla stolz.
„Das Leder, das du in Fès gekauft hast, habe ich geprüft und nach England
weiterverschifft. Der Wechsel über deinen Anteil ist schon eingetroffen.“
Er maß sie mit einem seltsamen Blick. „Willst
du mich aus meiner Position
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