Die Loewin von Mogador
Freilassung zu bitten. Ich
muss es jetzt tun.“
„Niemals! Das ist ganz und gar der falsche
Zeitpunkt!“ André war entsetzt.
„Was für mich der falsche Zeitpunkt ist,
entscheide ich selbst!“, fuhr sie ihn an. „Und wenn du mich nicht mitnimmst,
reite ich allein. Benjamin darf nicht weiter auf dieser Insel festsitzen. Wenn
es wirklich zum Krieg kommt, gehört er zu seiner Familie!“
„Du bist ja völlig verrückt! Glaubst du, der
Sultan gibt dir Benjamin umsonst? Du hast mir selbst erzählt, dass die Schergen
des Kaids dir das ganze Geld genommen haben. Abd Er Rahman will mehr als eine
Handvoll Dirham für das Leben deines Mannes!“
Sibylla lächelte verschmitzt. „Für dieses
Problem gibt es eine sehr einfache Lösung: Wir bezahlen die Freiheit meines
Mannes mit der Nachricht von der Intrige gegen den Sultan!“
Am nächsten Morgen ließ Sibylla sich von
derselben Mannschaft auf die Insel Mogador rudern, die fast auf den Tag genau
drei Monate zuvor ihren Mann dorthin gebracht hatte. Sie war nervös und
übermüdet. Die Nacht hatte sie mit Packen verbracht und über den bevorstehenden
Besuch beim Sultan nachgedacht. Jetzt ging ihr die erste Begegnung mit Benjamin
seit seiner Verhaftung durch den Kopf. Sie hatte Fragen, die das Geschäft
betrafen: Vereinbarungen zwischen Händlern und der Reederei, wann sie Toledano
konsultieren musste oder wie sie mit dem Hafenmeister und den Kapitänen umgehen
sollte. Außerdem wollte sie Benjamin informieren, dass sie jetzt die Geschäfte
führte. Vor allem aber musste sie endlich hören, was er zu der Anschuldigung
des Sklavenhandels sagte. Diese immer noch ungeklärte Frage raubte ihr den
Seelenfrieden. Tagsüber grübelte sie darüber nach, und nachts träumte sie
davon.
Wenigstens verfügte sie wieder über etwas
Geld. Ein Wechsel für Benjamins Anteil an den Häuten, die er in Fès gekauft
hatte, war eingetroffen. Ebenso ein Wechsel aus ihrer Mitgift, der reichte, um
sie und die Kinder bis zum Jahresende zu ernähren und ihre Schulden bei Nadira
zurückzuzahlen.
Gischt spritzte über die niedrige Seitenwand
des Bootes und nässte Sibyllas Kleid. Sie schlang die Arme um den Korb, den sie
auf ihren Knien balancierte, und blickte zurück zum Ufer. Hoch bepackte
Lastenkamele zogen hinter ihren Führern in einer langen Reihe über den Sand in
Richtung Süden. Dahinter erhoben sich im Sonnenlicht die weißen Mauern von
Mogador. Es ergab ein so friedliches Bild. Sie konnte sich kaum vorstellen,
dass der Stadt möglicherweise bald ein Krieg drohte.
Die sechs Ruderer pflügten mit gleichmäßigen
Schlägen durchs Wasser, vorbei an den Fregatten und Brigantinen, die im
Hafenbecken ankerten. Der Kapitän ihres Bootes stand am Kiel und brüllte
Kommandos. Vor ihnen lag die Insel Mogador im Morgendunst. Mit den Zinnen der
Bastion auf scharfen Felszacken und dem hohen Turm der Moschee erhob sie sich
wie der dornenbewehrte Rücken eines Drachen aus dem Wasser. Hoch am Himmel
stand ein Falke, winzig und fast unbeweglich. Sibylla legte eine Hand über die
Augen und beobachtete, wie er plötzlich pfeilschnell auf die Insel herabstieß.
Sie fühlte sich befangen bei dem Gedanken an
ihren Mann und war ehrlich genug, sich einzugestehen, dass sie ihn während der
drei Monate seiner Gefangenschaft nicht sehr vermisst hatte. André, der für sie
nach Marrakesch geritten war, hatte ihr weit mehr gefehlt.
Wenige Minuten später drosselten die Ruderer
das Tempo und manövrierten das Boot zwischen spitz aus dem Wasser ragenden
Felsnadeln auf ein sandiges Uferstück. Dort wurde Sibylla bereits vom
Festungskommandanten und zwei schwarzen Gardisten erwartet. Der Kapitän half
ihr beim Aussteigen.
„Kommen Sie nach dem Nachmittagsgebet
zurück!“, befahl sie, bevor die Barkasse wieder ablegte und sich mit raschen
Ruderschlägen entfernte.
„Asalamu alaikum.“ Sie wandte sich dem
Kommandanten zu, einem bärtigen, finster dreinblickenden Araber mit einem
gewaltigen Krummsäbel am Gürtel. Er knurrte etwas, das entfernt wie „wa-alaikum
salam“ klang, und zeigte auf ihren Korb: „Auspacken!“
Sie unterdrückte ein Seufzen, während sie
nacheinander Kleidung, Bücher, Zeitungen, Toilettenartikel und ein Paket mit
frischem Brot, Früchten und Käse vor den Soldaten ausbreitete. Der Kommandant
schaute blasiert drein, aber seine Soldaten betasteten Benjamins europäische
Kleidung neugierig. Sein Rasiermesser beschlagnahmten sie, alles andere durfte
sie behalten. Dann führten
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