Die Loewin von Mogador
und die de Silvas und all die anderen Konsuln und
Kaufleute mit ihren Familien.
„Mais ce n'est pas possible!“,
murmelte André.
Sibyllas Blick glitt suchend über die Menge,
dann entdeckte sie Nadira, die am Rand unter dem Glockenturm saß, dicht neben
ihr Firyal. Tom und Johnny waren bei ihnen.
„Mummy!!“ Die Jungen strampelten sich
gleichzeitig aus den Armen der Dienerinnen. Sibylla stieß einen Schrei aus und
rannte los.
„Wir werden hier festgehalten, seit Soldaten
uns vor drei Tagen im Morgengrauen aus den Betten geholt haben“, berichtete
Konsul Willshire, nachdem die Aufregung um die Neuankömmlinge sich gelegt
hatte. „Wir wissen nicht, warum. Ich habe eine Erklärung vom Kaid gefordert,
bis jetzt vergeblich. Sie lassen uns nicht raus, aber sie lassen uns in Ruhe.
Zweimal am Tag bekommen wir Wasser und etwas zu essen…“
„…wenn man diesen Fraß als Essen bezeichnen
will. Viele Kinder hier leiden an Bauchschmerzen und Durchfall!“, meldete die
Frau des französischen Konsuls sich zu Wort.
„Dabei hat niemand von uns den Mauren etwas
getan!“, empörte sich ein portugiesischer Kaufmann.
„Vielleicht müssen wir jetzt alle für die
Taten des Sklavenhändlers büßen“, meldete eine Frau sich zu Wort und zeigte
anklagend auf Sibylla. Feindseliges Gemurmel wurde laut.
Sofort stellte André sich vor sie und die
Kinder. „Der Sultan persönlich hat die Freilassung von Mr. Hopkins befohlen! Er
ist also unschuldig!“
„Können Sie das beweisen?“, fragte Konsul
Willshire.
Sibylla zog die Urkunde, die sie die ganze
Zeit unter ihrer Tunika getragen hatte, hervor, entrollte sie und hielt sie
empor, so dass alle das große Siegel des Sultans darauf sehen konnten. Wieder
wurde Gemurmel laut, teils zweifelnd, teils zustimmend.
Rasch schaltete André sich ein: „Ich denke,
ich weiß, warum wir hier gefangen gehalten werden.“ In kurzen Sätzen berichtete
er von Abd El Kader, den Gefechten an der Grenze zwischen Marokko und Algerien
und den französischen Vergeltungsmaßnahmen. „Als wir von Marrakesch losgeritten
sind, erhielt der Sultan die Nachricht, dass Tanger von französischer Marine
beschossen wird. In Mogador deutet alles darauf hin, dass ebenfalls ein Angriff
droht. Die Stadt wird verrammelt und bewaffnet. Ich vermute, der Kaid hält uns
hier als Geiseln fest.“
Bei seinen letzten Worten brach wildes
Durcheinander aus. Mehrere Männer wollten die Wachen überwältigen und fliehen,
andere befürchteten, als lebende Schutzschilde missbraucht zu werden. Eine
dritte Partei schwor laut, dass die Gefangenschaft Konsequenzen für den Sultan
und seinen Kaid haben würde. Frauen weinten, Kinder plärrten. Plötzlich flog
die Tür auf, einige ihrer Bewacher stürmten in den Kirchenraum, brüllten wüst
und feuerten in die Luft. Staub und Steinchen regneten auf die verängstigten
Menschen herab. Sibylla warf sich schützend über ihre Kinder. Sara Willshire
war totenblass und bewegte die Lippen wie in einem stummen Gebet. Firyal weinte
laut und hielt sich die Augen zu. Doch so schnell die Soldaten aufgetaucht
waren, verschwanden sie auch wieder.
„Diese Behandlung verdanken wir also den
Franzosen!“, stieß ein englischer Kaufmann hasserfüllt hervor. Aus mehreren
Ecken wurde zustimmendes Gemurmel laut.
André hob um Ruhe bemüht die Arme. „Ich
glaube nicht, dass uns wirklich etwas geschieht. Abd Er Rahman wird uns nicht
ermorden lassen und so Krieg mit sämtlichen europäischen Großmächten riskieren.
Ich schlage vor, dass wir uns einen Überblick verschaffen. Es ist noch ungefähr
eine Stunde hell. Ich werde in den Glockenturm steigen. Dort oben sind bestimmt
keine Wachen, und ich kann mich umsehen.“
Eine kleine braune Eule flog auf, als der
Franzose die halb verfallenen Stufen erklomm.
„Das bringt Unglück“, flüsterte Firyal und
barg ihr Gesicht in den Händen, aber niemand hörte ihr zu. Zweihundert Menschen
blickten gebannt in das geborstene Gemäuer des Glockenturms. Was würde André
dort oben sehen? Welche Nachrichten mitbringen? Und was würde aus ihnen allen
werden, wenn ihn dort oben jemand entdeckte?
Sibylla dachte an jenen verzauberten
Nachmittag, den sie an diesem Ort verbracht hatten. War es wirklich erst drei
Monate her, dass sie sich hier in den Armen gelegen, sich geküsst und ihr Leben
erzählt hatten, selbstvergessen und glücklich, als gäbe es nur sie beide auf
der Welt?
„Mummy“! Tom war von Nadiras Schoß gekrabbelt
und unter ihren
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