Die Loewin von Mogador
Arm geschlüpft. „Wo ist Papa? Haben die Soldaten ihn auch
gefangen?“
Sie streichelte sein lockiges Haar. „Papa ist
bald wieder bei uns, mein Schatz.“
„Wirklich?“ Er strahlte sie an.
Sand und Steinchen rieselten aus dem Glockenturm
herab, als André vorsichtig wieder hinunterkletterte.
„Ich habe Schiffsmasten gesehen“, verkündete
er, sobald er wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte. „Die Großmasten
ragten durch den Nebel, zwölf, vielleicht fünfzehn. Es sind Franzosen, ich habe
die Trikolore erkannt. Eine englische Fregatte ist auch dabei, obwohl ich die
Flagge wegen des Nebels schlecht sehen konnte. Vielleicht handelt es sich um
ein Beobachtungsschiff, oder sie wollten englische Bürger aus Mogador an Bord
nehmen und wurden vom Kaid daran gehindert.“
Betroffenes Schweigen machte sich breit. Sara
Willshire schluchzte leise.
„Könnten all diese Schiffe nicht
Handelsschiffe sein?“, fragte ihr Gatte schließlich.
André schüttelte den Kopf. „Nein. Bis auf den
Engländer haben sie Kriegsbeflaggung gehisst. Ich habe den Wimpel des
Oberbefehlshabers erkannt. Es ist der Prinz von Joinville, der sich schon im
Algerienkrieg verdient gemacht hat. Wir alle wissen, was das bedeutet: Sobald
der Nebel sich lichtet, wird Mogador bombardiert.“
Sechsundzwanzig Stunden später, als die Sonne
gleißend über dem bleiernen, aufgewühlten Meer stand, schwiegen die Kanonen.
Die Stadt Mogador hatte sich ergeben, nachdem die Insel Mogador von fünfhundert
französischen Soldaten eingenommen worden war.
André stand neben dem Kaid auf dem Dach des
Statthalterpalastes und spähte durch ein Fernrohr zu der englischen Fregatte
Warspite, die zwischen den französischen Kriegsschiffen vor der Hafeneinfahrt
ankerte. Mehrere Beiboote voller Menschen wippten wie Nussschalen auf den
Wellen um die Fregatte.
Nachdem das Feuer eingestellt worden war,
hatten französische Soldaten von den Kriegsschiffen übergesetzt und die
Gefangenen in der portugiesischen Kirche befreit, die glücklicherweise von
Einschlägen verschont geblieben war. Nun wurden sie zur Warspite – in
Sicherheit – gerudert. Von den Ausländern blieb nur André in der Stadt. Von
einem der Adjutanten des französischen Oberbefehlshabers hatte er erfahren,
dass die Sieger marokkanische Offiziere und Soldaten als Geiseln nehmen würden,
bis der Sultan all ihren Bedingungen für die Auslieferung Abd El Kaders
zugestimmt hatte. Daraufhin hatte André sich als Übersetzer und Vermittler
angeboten.
Sein Blick wanderte von den Rettungsbooten
zur Warspite zurück, wo Matrosen den Männern, Frauen und Kindern halfen, das
schwankende Fallreep emporzuklettern. Doch sosehr er sich auch bemühte – er
konnte weder Sibylla noch ihre Kinder oder die beiden Dienerinnen entdecken. Er
hatte sie gedrängt, sich mit den anderen auf die Warspite zu begeben.
Eigentlich hatte sie zu ihrem Haus gewollt, um nachzusehen, ob die Kanonen dort
irgendwelche Schäden angerichtet hatten.
„Auf dem Schiff seid ihr sicherer“, hatte
André gedrängt und ihr verschwiegen, dass er Plünderungen und Übergriffe von
rachedurstigen Einheimischen gegen die Ausländer befürchtete.
„Die französischen Soldaten haben die Perle
des Atlantiks geschändet, jetzt rauben sie sie aus!“, stieß Kaid Hash Hash
neben ihm bitter hervor und blickte mit glühenden Augen zum Hafen, wo
französische Soldaten Fässer mit Schießpulver ins Wasser kippten. Andere luden
erbeutete Gewehre und Flaggen auf Beiboote und schoben Geschütze über den Kai,
damit sie später in Paris der staunenden Bevölkerung vorgeführt werden konnten.
„Der Prinz von Joinville wird es honorieren,
dass Sie den ausländischen Geiseln kein Haar gekrümmt haben, Exzellenz.
Außerdem bin ich überzeugt, dass es der französischen Regierung fernliegt,
Seine Kaiserliche Majestät den Sultan zu demütigen“, versuchte André, den
Statthalter zu beschwichtigen.
Hash Hash schnaubte verächtlich. „Glauben Sie
das wirklich, Rouston? Seit Jahren ringen Engländer, Franzosen, Spanier und
andere europäische Mächte um den größtmöglichen Einfluss in Marokko. Heute
Morgen ist eine Brieftaube aus dem Norden mit der Nachricht eingetroffen, dass
auch Tanger sich ergeben musste. Nach diesem Sieg werdet ihr Franzosen eure
Bedingungen diktieren, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ihr das
stolze Marokko unterworfen habt, so wie ihr Algerien unterworfen habt!“
„Algerien wurde schon im
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