Die Loewin von Mogador
musterte die Bastion. „Eigenartig, wie
verlassen alles ist. Warte hier, ich werde die Lage prüfen.“ Er warf Sibylla
die Zügel des Pferdes zu, ging zu dem fest verrammelten Stadttor und schlug mit
dem Gewehrkolben dagegen. „Hallo! Aufmachen!“
Von drinnen ertönten gedämpfte
Stiefelschritte. Dann schoben sich direkt über André Gewehrläufe aus den
Schießscharten.
„Pass auf!“, schrie Sibylla.
Er zog sich ein paar Schritte zurück, legte
die Hände an seinen Mund und brüllte: „Macht das Tor auf!“
„Wer seid ihr?“, bellte eine Stimme hinter
den Schießscharten.
„Bürger dieser Stadt!“, antwortete André und
nannte ihre Namen. Die Gewehrläufe verschwanden. Wenig später wurden Riegel und
Bolzen zurückgeschoben und das Tor gerade so weit geöffnet, das Sibylla und
André mit den Pferden hindurchpassten. Auf der anderen Seite wurden sie von
mehreren Soldaten und dem Hauptmann der Schwarzen Garde erwartet, der schon die
Hausdurchsuchung bei Sibylla durchgeführt hatte. Die Männer hielten ihre
Musketen im Anschlag und starrten den Neuankömmlingen feindselig entgegen.
„Absteigen!“, befahl der Hauptmann Sibylla.
Völlig verblüfft kam sie seiner Aufforderung
nach. Die Soldaten griffen nach den Zügeln, aber André stellte sich rasch
dazwischen. „Die Pferde werden nicht angefasst!“ Er wandte sich an den
Hauptmann: „Wieso werden wir wie Verbrecher empfangen?“
Dessen Miene wurde noch finsterer. „Die
Pferde sind beschlagnahmt! Und jetzt mitkommen!“
„Ich will den Kaid sprechen!“ André legte
eine Hand auf sein Gewehr. Sofort wurde er von den Soldaten umringt, die mit
ihren Musketen auf ihn zielten. Widerwillig ließ er die Waffe los, die der
Hauptmann ihm sofort abnahm und knurrte: „Gnade euch Gott, wenn ihr für dieses
Theater keinen guten Grund habt!“
Sibylla blickte sich besorgt um. „Ich will
nach Hause! Ich will wissen, ob es meinen Kindern gut geht.“ Sofort hielt ihr
einer der Soldaten den Gewehrlauf unter die Nase, und sie fuhr erschrocken
zurück.
„Mitkommen!“, wiederholte der Hauptmann
drohend.
Unwillkürlich drängte sie sich an André. „Was
um Himmels willen ist hier passiert, während wir fort waren?“
Sibylla erkannte die weltoffene
Kaufmannsstadt fast nicht wieder, als die Gardisten sie durch Mogador trieben.
Die Häuser wirkten verschlossen und abweisend, die Menschen, die ihnen
begegneten, feindselig. Europäer sah Sibylla überhaupt nicht, aber von den
Souks kamen ihr viele mit Lebensmitteln beladene Einheimische entgegen. Sie
zuckte zurück, als ein alter Mann vor ihnen ausspuckte. Ein anderer stieß wüste
Flüche aus und ballte die Fäuste, Frauen zogen sich die Schleier tief über das
Gesicht und machten das Zeichen gegen den bösen Blick. Auch die Soldaten fielen
ihr auf. Es gab zwar eine Garnison auf der Insel Mogador, und sie war an den
Anblick der Garde gewöhnt, aber in all den Jahren hatte Sibylla sie noch nie so
kampfbereit erlebt. Es schien, als wappnete die Stadt sich gegen eine
Belagerung. Ganze Kompanien marschierten bis an die Zähne bewaffnet vorbei.
Geschütze und Karren mit Kanonenkugeln wurden von Eseln in Richtung der
Hafenbastionen transportiert. Sklaven rollten Fässer hinterher.
„Ich glaube, da ist Schießpulver drin“,
flüsterte André.
„Meinst du, die Franzosen beschießen nach
Tanger jetzt Mogador?“, wisperte Sibylla zurück.
„Möglich.“
„Uskuti, Faransawi! Schweig!“ Einer der
Soldaten stieß André unsanft den Gewehrlauf in die Rippen.
Sibylla vermutete, dass sie zur Kasbah
gebracht wurden, aber die Soldaten bogen in eine Sackgasse hinter der
westlichen Bastion.
„Was tun wir denn hier?!“, rief sie erstaunt,
als sie den Ort erkannte.
„Uskuti!“, blaffte der Hauptmann.
André legte rasch einen Arm um sie. Sie
hatten vor der kleinen portugiesischen Kirche gehalten. Sibylla traute ihren
Augen kaum, aber die alte in rostigen Angeln hängende Tür wurde von mehreren
schwer bewaffneten Gardisten bewacht.
„Los! Rein da!“ Zwei Soldaten stießen sie
unsanft ins Innere. Dann krachte die Tür hinter ihnen ins Schloss.
Furchtsames Gemurmel erhob sich im
Kirchenraum. Sibylla roch die Ausdünstungen vieler Menschen, Schweiß,
Erbrochenes, Exkremente. Sie unterdrückte ein Würgen und blinzelte ins
Zwielicht. Männer, Frauen und Kinder kauerten aneinandergedrängt auf dem Boden.
Die Ausländer Mogadors waren in der kleinen Kirche gefangen! Sibylla erkannte
ihre Nachbarn, die Willshires
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