Die Loge
russischen Kriegsgefangenen ausgehobenen Graben verscharrt.«
Dann schob sie den Ärmel hoch, um Gabriel ihre Häftlingsnummer zu zeigen – jenes Stigma, das Gabriels Mutter so verzweifelt zu verbergen gesucht hatte. Selbst in der glühenden Sommerhitze im Jesreel-Tal hatte sie lieber langärmlige Blusen getragen, als einen Fremden ihre Tätowierung sehen zu lassen. Ihr Schandmal, wie sie es genannt hatte. Ihr Zeichen jüdischer Schwäche.
»Benjamin hatte Angst, ermordet zu werden«, sagte Frau Ratzinger. »Sie haben ihn zu den unmöglichsten Zeiten angerufen und schreckliche Dinge ins Telefon gebrüllt. Sie haben manchmal nachts vor dem Haus gestanden, um ihn einzuschüchtern. Er hat mir erklärt, falls ihm jemals etwas zustieße, würden Männer kommen – Männer aus Israel.«
Sie öffnete die Schublade ihres Küchenbüffets und zog eine weiße Leinentischdecke heraus, die sie mit Chiaras Hilfe aufschlug. In der gefalteten Tischdecke war ein großer brauner Umschlag versteckt, dessen Kanten und Verschlußklappe mit Paketband verstärkt waren.
»Danach haben Sie gesucht, nicht wahr?« Sie hielt den Umschlag hoch, damit Gabriel ihn begutachten konnte. »Als ich Sie zum erstenmal sah, ahnte ich, daß Sie der richtige Mann sind, aber ich wußte nicht, ob ich Ihnen trauen durfte. In Benjamins Wohnung haben sich seltsame Dinge ereignet. Männer kamen mitten in der Nacht. Polizeibeamte haben seine Sachen abtransportiert. Ich hatte Angst. Wie Sie sich vorstellen können, traue ich Deutschen in Uniform noch immer nicht.«
Ihr melancholischer Blick glitt über Gabriels Gesicht. »Sie sind nicht sein Bruder, habe ich recht?«
»Nein, der bin ich nicht, Frau Ratzinger.«
»Das habe ich mir gedacht. Deshalb habe ich Ihnen seine Brille gegeben. Ich wußte, daß Sie den Spuren folgen und irgendwann zu mir zurückfinden würden. Ich mußte sichergehen, daß Sie der richtige Mann sind. Also sind Sie der richtige Mann, Herr Landau?«
»Ich bin nicht Herr Landau, aber ich bin der richtige Mann.«
»Sie sprechen sehr gut deutsch«, sagte sie. »Sie sind aus Israel, nicht wahr?«
»Ich bin im Jesreel-Tal aufgewachsen«, sagte Gabriel und wechselte ohne Ankündigung ins Hebräische über. »Benjamin war für mich der Bruder, den ich nie hatte. Ich bin der Mann, von dem er wollen würde, daß er den Inhalt dieses Umschlags sieht.«
»Dann gehört er Ihnen«, antwortete sie in derselben Sprache. »Führen Sie die Arbeit Ihres Freundes zu Ende. Aber kommen Sie auf keinen Fall hierher zurück. Hier sind Sie nicht sicher.«
Sie legte den Umschlag sorgfältig in Gabriels Hände und berührte seine Wange.
»Geh«, sagte sie.
T EIL IV
Eine Synagoge am Fluß
25
V ATIKANSTADT
Benedetto Foà fand sich um halb elf, einer für römische Verhältnisse durchaus normalen Zeit, in dem dreistöckigen Gebäude am Eingang zum Petersplatz zur Arbeit ein. In einer Stadt voller elegant angezogener Männer bildete Foà eine deutlich erkennbare Ausnahme. Längst wies seine Hose keine Bügelfalte mehr auf, die Zehenkappen seiner schwarzen Schuhe waren abgestoßen und die Taschen seines Sportsakkos ausgebeult, weil er die Angewohnheit hatte, Notizblöcke, Kassettenrekorder und alle möglichen Papiere hineinzustopfen. Foà, Vatikankorrespondent der Zeitung La Repubblica, traute niemandem, der nicht sämtliche seiner Habseligkeiten in seinen Taschen mit sich tragen konnte.
Er bahnte sich seinen Weg durch die Touristenhorden, die vor den Souvenirläden im Erdgeschoß Schlange standen, und wollte eben die Eingangshalle betreten, als ihm ein Wachmann in blauer Uniform den Weg versperrte. Foà seufzte und wühlte in seinen Taschen, bis er seinen Presseausweis fand. Das war ein unnötiges Ritual, denn Benedetto Foà stand den Vaticanisti vor, und das Sicherheitspersonal der Pressestelle kannte sein Gesicht so gut wie das des österreichischen Despoten, der sie leitete. Ihn dazu zu zwingen, seinen Presseausweis vorzuweisen, war nur eine weitere Form subtiler Bestrafung – wie seine Verbannung aus der Sondermaschine des Papstes bei dessen bevorstehender Reise nach Argentinien und Chile. Foà war aufsässig gewesen und verbüßte eine Art Bewährungsstrafe. Er war auf die Streckbank geschnallt worden und hatte die Möglichkeit zu bereuen. Noch ein Fehltritt, und sie würden ihn auf dem Scheiterhaufen festbinden und das Zündholz anreißen.
Die Sala Stampa della Santa Sede, allgemeinhin als vatikanische Pressestelle bekannt, war eine Insel der
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