Die Loge
einem schlanken Metallwerkzeug an die Arbeit. Gabriel kehrte ihr den Rücken zu und beobachtete das Treppenhaus. Dreißig Sekunden später hörte er, wie das Schloß nachgab. Chiara stieß die Wohnungstür auf. Sie duckten sich unter dem Absperrband hindurch und betraten die Wohnung. Gabriel schloß die Tür und schaltete seine Stablampe ein.
»Beeil dich«, sagte er. »Und nimm keine Rücksicht auf die Ordnung.«
Er führte sie in den großen Raum, der auf die Straße hinausging und Benjamin als Arbeitszimmer gedient hatte. Der Lichtstrahl von Chiaras Stablampe fiel auf die rechtsextremen Graffiti an den Wänden. »Großer Gott«, flüsterte sie.
»Du fängst dort drüben an«, sagte Gabriel. »Wir durchsuchen jeden Raum gemeinsam, bevor wir uns zusammen den nächsten vornehmen.«
Sie arbeiteten lautlos, aber effizient. Während Gabriel den Schreibtisch durchsuchte, zog Chiara ein Buch nach dem anderen aus dem Regal und blätterte es durch. Nichts . Als nächstes nahm sich Gabriel die Sitzmöbel vor, riß Überzüge ab und schlitzte Polster auf. Nichts . Er stellte den Couchtisch auf den Kopf und schraubte auf der Suche nach Hohlräumen die Beine ab. Nichts . Gemeinsam drehten sie den Teppich um und suchten nach einer angenähten Tasche, die womöglich Schriftstücke enthielt. Nichts . Gabriel ging auf alle viere hinunter und kontrollierte geduldig sämtliche Fußbodendielen, um zu sehen, ob eine davon locker war. Chiara nahm inzwischen die Heizkörperverkleidungen ab.
Verdammt!
Am Zimmerende führte eine Tür in einen weiteren Raum, im Grunde nur eine Kammer. Dort hatte Benjamin noch mehr Bücher aufbewahrt. Gabriel und Chiara durchsuchten sie gemeinsam, ohne jedoch fündig zu werden.
Als Gabriel beim Hinausgehen die Tür hinter sich schloß, hörte er ein leises Geräusch, einen irgendwie seltsamen Laut – nicht das Quietschen einer schlechtgeölten Türangel, sondern eine Art Rascheln. Er ließ die Hand auf der Klinke und öffnete und schloß die Tür mehrmals rasch in Folge. Auf, zu, auf, zu, auf …
Die Tür war hohl und schien irgend etwas in ihrem Innern zu hüten.
Gabriel wandte sich an Chiara. »Ich brauche den mittleren Schaubenzieher.«
Er kniete sich hin und löste die Schrauben, die in den Klinken und im Schloß steckten. Als er das Türschloß herauszog, war daran ein dünner Nylonfaden befestigt, der in den Hohlraum des Türblatts hinunterreichte. Gabriel zog vorsichtig daran, bis eine durchsichtige Plastikhülle mit Klemmverschluß zum Vorschein kam. Sie enthielt mehrere eng ineinandergerollte Blatt Papier.
»Großer Gott!« rief Chiara. »Ich kann nicht glauben, daß du wirklich etwas gefunden hast!«
Gabriel öffnete den Klemmverschluß, zog vorsichtig die Blätter heraus und entrollte sie im Licht von Chiaras Stablampe. Er schloß die Augen, fluchte halblaut und hielt Chiara die Blätter hin.
Es handelte sich um eine Fotokopie von Schwester Reginas Bericht.
Gabriel kam langsam auf die Beine. Es hatte sie mehr als eine Stunde gekostet, etwas zu finden, das sie bereits hatten. Wieviel länger würde es dauern, das zu finden, was sie brauchten? Er holte tief Luft und drehte sich um.
Dabei sah er den Schatten einer Gestalt, die mitten in dem Durcheinander in Benjamins Arbeitszimmer stand. Er griff in seine Jackentasche, umfaßte den Griff der Beretta und zog die Waffe heraus. Während er zum Schuß ansetzte, beleuchtete Chiaras Stablampe das Ziel. Zum Glück gelang es Gabriel, seinen Zeigefinger daran zu hindern, den Abzug zu betätigen, denn drei Meter vor ihm stand eine in einen zartrosa Bademantel gehüllte alte Frau, die sich schützend eine Hand über die Augen hielt.
In Frau Ratzingers winziger Wohnung herrschte ein krankhafter Ordnungssinn, der Gabriel sofort auffiel. Die Küche war blitzblank und steril, das Geschirr in einem kleinen Büffet sorgfältig ausgerichtet. Die kitschigen Figuren auf dem Couchtisch im Wohnzimmer sahen aus, als würden sie von der Insassin eines Irrenhauses ständig neu arrangiert – was die arme Frau in vielerlei Hinsicht auch war, wie Gabriel recht gut wußte.
»Wo waren Sie?« fragte er behutsam in einem Tonfall, in dem er sonst nur mit einem kleinen Kind sprechen würde.
»Erst in Dachau, dann in Ravensbrück, zuletzt in Riga.« Sie machte eine kurze Pause. »Meine Eltern sind in Riga ermordet worden. Sie wurden von einer Einsatzgruppe aus SD-Beamten und SS-Mannschaften erschossen und mit siebenundzwanzigtausend anderen Häftlingen in einem von
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