Die Loge
Reichenbachstraße. Eine junge Frau hielt ihnen die Tür auf. Sie war in Chiaras Alter und hatte breite Hüften und rabenschwarze Haare.
»Wie haben Sie das geschafft?« fragte Gabriel.
»Sie haben meinen Vater in Venedig angerufen. Er hat sich für uns verbürgt.«
Innen war das Gemeindezentrum modern und durch Neonlampen hell erleuchtet. Sie folgten der jungen Frau eine Treppe in den obersten Stock hinauf und wurden in ein kleines Zimmer mit Linoleumfußboden und zwei identischen Betten mit beigen Tagesdecken geführt. Gabriel fühlte sich stark an eine Krankenstation erinnert.
»Dieses Zimmer steht für Gäste und in Notfällen bereit«, erklärte die junge Frau. »Sie können hier gern ein paar Stunden schlafen. Diese Tür führt in das Bad mit Dusche und Toilette.«
»Ich müßte ein Fax versenden«, sagte Gabriel.
»Das Gerät steht unten. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.«
Gabriel folgte ihr in ein kleines Büro neben dem Empfangsbereich hinunter.
»Haben Sie einen Fotokopierer?«
»Natürlich. Dort drüben.«
Gabriel zog Schwester Reginas Bericht aus der Innentasche seiner Jacke und machte eine Fotokopie davon. Dann kritzelte er ein paar Zeilen auf ein separates Blatt und übergab alles der jungen Frau. Er sagte die lange Faxnummer auswendig auf, während sie die Blätter in das Gerät einlegte.
»Wien?« fragte sie.
Gabriel nickte. Er hörte, wie das Faxgerät Eli Lavons Büro anwählte, und sah zu, wie ein Blatt nach dem anderen eingezogen wurde. Zwei Minuten nach Abschluß der Sendung tutete das Faxgerät und spuckte ein einzelnes Blatt mit zwei hingeschmierten Wörtern aus.
Dokument empfangen.
Gabriel erkannte Lavons Handschrift.
»Brauchen Sie sonst noch irgendwas?«
»Nur ein paar Stunden Schlaf.«
»Dabei kann ich Ihnen nicht behilflich sein.« Sie lächelte ihn zum erstenmal an. »Finden Sie allein nach oben zurück?«
»Als er in das Gästezimmer zurückkam, waren die Vorhänge geschlossen. Chiara lag mit angezogenen Knien in einem der Betten und schlief bereits. Gabriel zog sich aus, schlüpfte unter die Decke des anderen Betts und bewegte sich auf der quietschenden Federkernmatratze möglichst wenig, um Chiara nicht zu wecken. Dann schloß auch er die Augen und versank in einen traumlosen Schlaf.
In Wien stand Eli Lavon, eine Zigarette im Mundwinkel, vor dem Faxgerät und begutachtete mit zusammengekniffenen Augen das Dokument, das er in seinen nikotingelben Fingern hielt. Dann ging er in sein Büro zurück, in dem ein Mann im nachmittäglichen Halbdunkel saß. Lavon schwenkte die losen Seiten in der Hand.
»Unser Held und die Heldin sind wiederaufgetaucht.«
»Wo sind sie?« fragte Ari Schamron.
Lavon sah auf das Fax hinunter und las die Absenderkennung. »Offenbar in München.«
Schamron schloß die Augen. »Wo in München?«
Lavon betrachtete das Fax erneut. »Diesmal hat unser Junge anscheinend zu den Wurzeln seines Volkes zurückgefunden.«
»Und das Dokument?«
»Ich spreche leider nur wenig Italienisch, aber nach dem Text der ersten Zeile zu urteilen, scheint er Schwester Regina aufgespürt zu haben.«
»Zeigen Sie her!«
Lavon gab Schamron das Fax. Er las die ersten Wörter laut vor – »Mi chiamo Regina Carcassi …« –, dann sah er scharf zu Lavon auf.
»Kennen Sie jemanden, der Italienisch spricht?«
»Ich kann jemanden finden.«
»Sofort, Eli.«
Als Gabriel aufwachte, war es draußen stockfinster. Er hob das Handgelenk vor die Augen und starrte auf die Leuchtziffern seiner Armbanduhr. Gleich zehn Uhr. Er streckte eine Hand nach den Kleidungsstücken auf dem Boden aus und tastete sie ab, bis er Schwester Reginas Bericht gefunden hatte. Dann atmete er auf.
Chiara lag neben ihm. Irgendwann hatte sie ihr Bett verlassen und sich wie ein kleines Kind in seine Arme geflüchtet. Sie kehrte ihm den Rücken zu, und ihr Haar bedeckte das Kopfkissen. Als Gabriel ihre Schulter berührte, drehte sie sich nach ihm um. Ihre Augen waren feucht.
»Was hast du?«
»Ich habe nur nachgedacht.«
»Worüber?«
Langes Schweigen, in das ein lautes Hupen von der Straße drang. »Ich war oft in der Kirche San Zaccaria, um dir bei der Arbeit zuzusehen. Du hast oben auf deinem mit Planen verhängten Gerüst gearbeitet. Manchmal habe ich durch einen Spalt zwischen den Planen hindurchgesehen und dich dabei beobachtet, wie du das Gesicht der Madonna angestarrt hast.«
»Ich muß mir offenbar breitere Planen anschaffen.«
»Du siehst sie, nicht wahr? Betrachtest du die
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