Die Loge
ihn jeden Tag und kam für seine Behandlung auf. Er fand heraus, daß der verwahrloste Straßenjunge in einem Kloster gelebt hatte, lesen und schreiben konnte und viel über die Bibel und die Kirche wußte. Er überzeugte den Jungen davon, ins bischöfliche Knabenseminar einzutreten, um als Priester einem Leben in Armut und krimineller Umgebung zu entgehen. Der Junge war damit einverstanden, was seinem Leben eine unwiderrufliche Wendung gab.
Während der Papst erzählte, hörten Gabriel, Schamron und Eli Lavon gebannt zu. Monsignore Donati blickte auf sein Notizbuch hinab, aber auch seine Hände blieben unbeweglich. Auf die Erzählung des Heiligen Vaters folgte tiefes Schweigen, bis endlich Schamron das Wort ergriff.
»In diesem Zusammenhang möchte ich betonen, Euer Heiligkeit, daß es nicht unsere Absicht war, Informationen über das Kloster am Gardasee oder Eure Vergangenheit auszugraben. Wir wollten nur feststellen, von wem und weshalb Benjamin Stern ermordet worden ist.«
»Ich verüble Ihnen keineswegs, daß Sie mir diese Informationen überbracht haben, Herr Schamron. So schmerzlich diese Schriftstücke auch sind, müssen sie doch veröffentlicht werden, damit die Historiker, aber auch gewöhnliche Juden und Katholiken sie analysieren und im richtigen Kontext beurteilen können.«
Schamron legte Paul VII. die Schriftstücke hin. »Wir haben nicht den Wunsch, sie zu veröffentlichen. Wir überlassen es Euch, damit zu tun, was Ihr für richtig haltet.«
Der Papst senkte den Kopf, als betrachte er die Dokumente, aber sein Blick war geistesabwesend, gedankenverloren. »Er war nicht so schlecht, wie seine Feinde ihn dargestellt haben, unser Papst Pius XII. Aber leider auch nicht so tugendhaft, wie seine Verteidiger, darunter auch die Kirche, immer wieder behaupten. Er hatte Gründe für sein Schweigen – die Angst, die deutschen Katholiken zu spalten, die Angst vor deutschen Vergeltungsmaßnahmen gegen den Vatikan und den Wunsch, eine diplomatische Rolle als Friedensstifter zu spielen –, aber wir müssen uns der schmerzlichen Tatsache stellen, daß die Alliierten ihn drängten, gegen den Holocaust zu protestieren, während Adolf Hitler wollte, daß er dazu schwieg. Und aus irgendeinem Grund – weil er den Kommunismus haßte, weil er Deutschland liebte, weil er im päpstlichen Haushalt von Deutschen umgeben war – entschied sich Pius für den von Hitler favorisierten Kurs, und der Schatten dieser Entscheidung liegt noch heute auf uns. Er wollte ein Staatsmann sein, als die Welt nichts dringender brauchte als einen Priester – einen Mann in einer Soutane, der die Mörder anherrscht, im Namen Gottes und aller Heiligen von ihren Verbrechen abzulassen.«
Der Heilige Vater sah auf und betrachtete die Gesichter der ihm gegenüber Sitzenden – erst Lavons, dann Gabriels, zuletzt Schamrons, auf dem sein Blick am längsten ruhte. »Wir müssen uns die betrübliche Tatsache eingestehen, daß sein Schweigen eine Waffe in der Hand der Deutschen war. Es hat dazu beigetragen, daß die Massenverhaftungen und Deportationen unter nur minimalem Widerstand stattfinden konnten. Es gab Hunderte, vermutlich Tausende von Katholiken, die mitgeholfen haben, Juden zu retten. Aber hätten die Geistlichen und Ordensleute in Europa Anweisung gehabt, Widerstand gegen den Holocaust zu leisten, oder auch nur den Segen des Papstes dazu erhalten, hätten weit mehr Katholiken Juden bei sich aufgenommen, so daß weit mehr von ihnen den Krieg überlebt hätten. Hätten die deutschen Bischöfe frühzeitig gegen die Ermordung der Juden protestiert, hätte der Holocaust vielleicht nie sein späteres Ausmaß erreicht. Papst Pius wußte, daß die systematische Ausrottung des europäischen Judentums im Gange war, aber er zog es vor, dieses Wissen weitgehend für sich zu behalten. Warum verzichtete er darauf, die Weltöffentlichkeit zu alarmieren? Weshalb informierte er nicht einmal seine Bischöfe in den Staaten, aus denen Juden abtransportiert wurden? Wollte er sich an einen am Ufer eines Sees geschlossenen Pakt mit dem Bösen halten?«
Der Papst griff nach der Teekanne auf dem Couchtisch. Als sich Monsignore Donati nach vorn beugte, um ihm behilflich zu sein, hob er abwehrend die Hand, als wollte er sagen, Seine Heiligkeit wisse noch, wie man sich eine Tasse Tee eingießt. Er verbrachte einen Augenblick damit, nachdenklich Milch und Zucker zu verrühren, bevor er fortfuhr.
»Leider ist Pius' Verhalten nur ein Aspekt des Krieges, der
Weitere Kostenlose Bücher