Die Loge
Wohnung standen. Ja, schien ihr Blick zu sagen. Ja, dies ist der Ort, an dem es passiert ist. Aber jetzt wohne ich hier, deshalb gehen Sie bitte weiter. Sie schien in seinem Blick noch etwas anderes wahrzunehmen – etwas, das sie nervös machte –, denn sie schnallte den Kleinen rasch in seinem Sportwagen an und fuhr mit ihm in Richtung Spielplatz davon.
Gabriel erstieg einen begrünten kleinen Hügel und setzte sich ins kühle Gras. Wenn die Erinnerungen kamen, versuchte er normalerweise verzweifelt, sie zu verdrängen, aber diesmal hakte er die Sperrkette der Tür aus und ließ sie ein. Romano … Springer … Spitzer … Slavin … die Gesichter der Toten standen nacheinander vor seinem inneren Auge. Insgesamt elf Männer. Zwei bei der Geiselnahme getötet. Neun weitere bei dem verpfuschten deutschen Rettungsversuch in Fürstenfeldbruck. Golda Meir, die Rache in biblischen Proportionen nehmen wollte – Auge um Auge, Zahn um Zahn –, hatte den Dienst angewiesen, »die Jungs loszuschicken«, damit sie die Mitglieder des Schwarzen September liquidierten, die den Überfall geplant hatten. Ein draufgängerischer Operationsoffizier namens Ari Schamron wurde mit der Leitung dieses Unternehmens betraut, und einer der »Jungs«, die er anwarb, war Gabriel Allon, damals ein vielversprechender Student der Kunstakademie Betsal'el in Jerusalem.
Irgendwie war Schamron auf die Akte über Allons unglücklichen Wehrdienst in der israelischen Armee gestoßen. Gabriel, das Kind von Auschwitz-Überlebenden, war von seinen Vorgesetzten als arrogant und selbstsüchtig beurteilt worden: zeitweise melancholisch deprimiert, aber auch hochintelligent und zu selbständigem Handeln imstande, ohne auf Befehle von Vorgesetzten angewiesen zu sein. Darüber hinaus sprach er mehrere Fremdsprachen – eine Fähigkeit, die für eine an der Front stehende Infanterieeinheit wenig Wert hatte, aber von Ari Schamron dringend gesucht wurde. Sein Krieg würde nicht auf den Golanhöhen oder auf dem Sinai geführt werden, sondern ein geheimer Krieg in vielen Teilen Europas sein. Gabriel hatte versucht, ihm standzuhalten. Schamron hatte ihm keine Wahl gelassen.
»Wieder sind Juden auf deutschem Boden mit auf dem Rücken gefesselten Händen gestorben«, hatte Schamron gesagt. »Deine Eltern haben überlebt, aber wie viele sind ermordet worden? Deine Brüder und Schwestern? Deine Onkel und Tanten? Großeltern? Sie sind alle tot, nicht wahr? Willst du wirklich mit deinen Pinseln und Farben hier in Tel Aviv hocken und nichts unternehmen? Du besitzt Talente. Laß sie mich für ein paar Monate nutzen. Danach kannst du dein Leben wieder selbst gestalten.«
Das Unternehmen erhielt den Decknamen »Zorn Gottes«. Im Lexikon des für seine Durchführung aufgestellten Teams war Gabriel ein aleph, ein Attentäter. Die Agenten, die Mitglieder des Schwarzen September aufspürten und ihre Gewohnheiten auskundschafteten, hießen ajin. Ein qoph war für Kommunikationsmittel zuständig. Benjamin Stern war ein heth, ein Logistiker, gewesen. Sein Job war es, Transportmittel und Unterkünfte so zu beschaffen, daß sich keine Verbindung zum Dienst herstellen ließ. Manchmal half er auch als Fahrer von Fluchtfahrzeugen aus. Tatsächlich hatte Benjamin am Steuer des grünen Fiat gesessen, der Gabriel in der Nacht, in der er den Chef des Schwarzen September in Italien erschossen hatte, von der Piazza Annibaliano fortgebracht hatte. Auf der Fahrt zum Flughafen hatte Gabriel Benjamin gedrängt, am Straßenrand zu halten, um sich zu übergeben. Noch jetzt glaubte er zu hören, wie Benjamin ihm zugerufen hatte, er solle wieder einsteigen.
»Bloß noch eine Minute.«
»Du verpaßt dein Flugzeug.«
»Eine Minute, hab ich gesagt!«
»Was hast du überhaupt? Der Hundesohn hatte den Tod verdient!«
»Du hast sein Gesicht nicht gesehen, Beni. Du hast sein Scheißgesicht nicht gesehen.«
In den folgenden eineinhalb Jahren hatte Schamrons Team ein Dutzend Mitglieder des Schwarzen September liquidiert. Gabriel persönlich erledigte sechs von ihnen. Als alles vorbei war, setzte Benjamin seine akademische Laufbahn fort. Auch Gabriel versuchte, seine Ausbildung an der Betsal'el abzuschließen, aber die Geister der Ermordeten raubten ihm seine Kreativität, deshalb ließ er Leah in Israel zurück und siedelte nach Venedig über, um sich von Umberto Conti zum Restaurator ausbilden zu lassen. In diesem Beruf fand er Heilung. Conti, der nichts von Gabriels Vergangenheit wußte, schien
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