Die Loge
das intuitiv zu begreifen. Er tauchte oft spätnachts in Gabriels schäbigem Pensionszimmer auf und schleppte ihn auf die Straßen Venedigs, um gemeinsam mit ihm Kunst zu betrachten. Als sie eines Abends vor Tizians großem Altarbild in der Kirche Santa Maria Gloriosa dei Frari standen, packte er Gabriel am Arm.
»Ein Mann, der mit sich selbst im Einklang ist, kann ein brauchbarer Restaurator, aber kein großer Restaurator sein. Nur ein Mann, dessen eigene Leinwand beschädigt ist, kann ein wahrhaft großer Restaurator sein. Für dich ist die Arbeit eine Meditation. Ein Ritual. Du wirst eines Tages ein großer Restaurator sein. Du wirst besser sein als ich. Davon bin ich überzeugt.«
Was Conti nicht ahnte – dies waren dieselben Worte, mit denen Schamron Gabriel verabschiedet hatte, als er ihn nach Rom geschickt hatte, um ihn seinen ersten Palästinenser liquidieren zu lassen.
Pünktlich um achtzehn Uhr dreißig stand Gabriel vor der Gaststätte Atzinger. Das erste, was er von Professor Helmut Berger sah, war die über die Amalienstraße heranschwebende Lampe seines Fahrrads. Dann tauchte aus der Dämmerung eine Gestalt auf, an der ihm zuerst rhythmisch gehende Beine und schütteres graues Haar, das über den großen Ohren flügelartig abstand, auffielen. Auf dem Rücken trug der Mann einen braunen Lederrucksack.
Dieser liebenswerte Eindruck, den der Professor bei seiner Ankunft machte, verflüchtigte sich jedoch rasch. Wie viele deutsche Intellektuelle trug Helmut Berger die Leidensmiene eines Mannes zur Schau, der den Tag damit verbracht hat, sich mit Wesen von minderer Intelligenz abzumühen. Er behauptete, nur Zeit für ein kleines Bier zu haben, lud Gabriel aber ein, etwas von der Speisekarte auszuwählen. Als Gabriel nur Mineralwasser bestellte, war Berger sichtlich enttäuscht.
»Das mit Ihrem Bruder tut mir sehr leid. Pardon, das mit Ihrem Halb bruder. Er war ein geschätztes Mitglied unserer Fakultät. Sein Tod war ein Schock für uns alle.« Das sagte er ohne innere Anteilnahme, als habe er sich diese Sätze von einem seiner Studenten aufschreiben lassen. »Womit kann ich Ihnen behilflich sein, Herr Landau?«
»Trifft es zu, daß Benjamin zum Zeitpunkt seiner Ermordung von allen Vorlesungen befreit war?«
»Ja, das stimmt. Er hat an einem weiteren Buch gearbeitet.«
»Wissen Sie, über welches Thema?«
»Nein, leider nicht.«
»Wirklich nicht?« Gabriel war ehrlich überrascht. »Ist es in Ihrer Fakultät üblich, daß sich jemand beurlauben läßt, um ein Buch zu schreiben, ohne Ihnen wenigstens das Thema mitzuteilen?«
»Nein, aber Benjamin hat dieses Buchprojekt von Anfang an mit größter Geheimhaltung behandelt.«
Gabriel sah ein, daß er sich mit dieser Auskunft würde begnügen müssen. »Wissen Sie etwas über die Drohungen, die Benjamin erhalten hat?«
»Es waren so viele, daß es schwierig war, sie auseinanderzuhalten. Zurückhaltend gesagt, haben Benjamins Thesen über eine Kollektivschuld der Deutschen ihn in vielen Kreisen sehr unbeliebt gemacht.«
»Das klingt so, als hätten Sie Benjamins Ansichten nicht geteilt.«
Der Professor zuckte mit den Schultern. »Vor einigen Jahren habe ich ein Buch über die Rolle der deutschen katholischen Kirche im Krieg veröffentlicht. Benjamin war mit meinen Schlußfolgerungen nicht einverstanden und hat das ziemlich laut hinausposaunt. Das war für uns beide keine sehr angenehme Zeit.«
Berger sah auf seine Armbanduhr. »Tut mir leid, aber ich habe noch einen anderen Termin. Kann ich Ihnen sonst noch etwas erzählen? Vielleicht etwas, das in engerem Zusammenhang mit Ihren Nachforschungen steht?«
»Im vergangenen Monat war Benjamin in Italien. Wissen Sie zufällig, wo er sich dort aufgehalten hat? Und ob er diese Reise wegen seines Buchs unternommen hat?«
»Bedaure, davon weiß ich nichts. Wissen Sie, Professor Stern hatte nicht die Angewohnheit, mich im voraus über seine Reisepläne zu informieren.« Berger trank sein Bier aus und stand auf. Ende der Vorlesung. »Nochmals mein Beileid, Herr Landau. Und ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihren Nachforschungen.«
Den Teufel tust du, dachte Gabriel, während er beobachtete, wie Professor Berger die Gaststätte verließ und davonradelte.
Auf dem Rückweg ins Hotel betrat Gabriel eine große Studentenbuchhandlung am Südrand des Universitätsbezirks. Nach einem Blick auf den Wegweiser im Erdgeschoß stieg er die Treppe zur Abteilung für Reiseliteratur und Landkarten hinauf, wo er die
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