Die Loge
in einem Krankenwagen verlassen und auf der Fahrt ins Krankenhaus die Jungfrau Maria um Rettung anflehen müssen. Zu seinen ersten Amtshandlungen gehörte es, die Hintergründe des Attentats genaustens ermitteln zu lassen, damit die Verschwörer identifiziert und neutralisiert werden konnten, bevor sie ein zweites Attentat auf den Papst verüben konnten. Die Ermittlungsergebnisse waren so brisant, daß Casagrande sie dem Heiligen Vater nur unter vier Augen mitteilte.
Heute war Casagrande nicht mehr direkt für den Personenschutz des Papsts verantwortlich. In den letzten drei Jahren hatte er im Dienst seiner geliebten Kirche eine andere Aufgabe übernommen. Offiziell gehörte er weiterhin dem Sicherheitsdienst des Vatikans an – das jedoch nur aus Zweckmäßigkeit, weil es ihm in gewissen Kreisen das nötige Ansehen sicherte. Gegenwärtig leitete er die vage benannte Abteilung für Sonderermittlungen. Casagrandes Arbeitsgebiet war so geheim, daß im Vatikan nur eine Handvoll Männer wußte, womit er wirklich betraut war.
Er betrat die Kapelle. Kühle, nach Kerzenwachs und Weihrauch duftende Luft umfächelte sein Gesicht. Am Eingang tauchte er die Fingerspitzen ins Weihwasserbecken und bekreuzigte sich. Dann folgte er dem Mittelgang zum Altar. Die Bezeichnung »Kapelle« war eine irreführende Untertreibung. In Wirklichkeit handelte es sich um eine ziemlich große Kirche – größer als die Pfarrkirchen der meisten umliegenden Kleinstädte.
Casagrande nahm seinen Platz in der vordersten Bankreihe ein. Roberto Pucci, der zu seinem grauen Anzug ein weißes Hemd mit offenem Kragen trug, nickte ihm von der anderen Seite des Mittelgangs zu. Trotz seiner fünfundsiebzig Jahre war Pucci noch immer von der Aura körperlicher Unverwundbarkeit umgeben. Sein Haar war weiß, sein Gesicht hatte die Farbe von geöltem Sattelleder. Er musterte Casagrande mit eisigem Blick aus schwarzen Augen mit schweren, halbgeschlossenen Lidern. Der berühmt-berüchtigte Pucci-Blick. Blickte Pucci so, schien er stets zu überlegen, ob er sein Gegenüber erdolchen oder ihm lieber die Kehle durchschneiden sollte.
Wie Carlo Casagrande war Roberto Pucci ein uomo di fiaducia, ein vertrauenswürdiger Mann. Nur Laien, die mit einzigartigen Fähigkeiten den Männern des Vatikans nützlich sein konnten, erhielten Zutritt zu seinen innersten Gemächern. Casagrande war Fachmann für Sicherheits- und Geheimdienstfragen. Pucci verfügte über Geld und politische Macht. Er war die graue Eminenz der italienischen Politik – ein Mann, der so einflußreich war, daß keine Regierung gebildet werden konnte, bevor nicht eine Pilgerfahrt zur Villa Galatina unternommen und sein Segen eingeholt worden war. Aber im politischen Establishment Italiens wußten nur wenige, daß Pucci eine weitere römische Institution ebenso fest im Griff hatte: den Vatikan. Seine Macht über den Heiligen Stuhl basierte auf der Tatsache, daß er heimlich große Teile des riesigen Aktien- und Immobilienbesitzes der Kirche verwaltete. Unter Puccis sicherer Hand war der Wert des vatikanischen Portfolios explosiv angestiegen. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern hatte er dies geschafft, ohne auch nur andeutungsweise in Skandale verwickelt gewesen zu sein.
Casagrande sah sich unauffällig um. Die anderen hatten sich auf die übrigen Bankreihen verteilt: der italienische Außenminister, ein wichtiger Bischof aus der Glaubenskongregation, der Leiter des vatikanischen Presseamts, ein einflußreicher Theologe aus Köln, ein Investmentbanker aus Genf, der Vorsitzende einer rechtsextremen französischen Partei, der Besitzer eines spanischen Medienkonzerns, der Vorstandsvorsitzende eines des größten europäischen Automobilherstellers. Dazu über ein Dutzend weiterer Männer, die allesamt ins selbe Schema paßten: alle strenggläubige Katholiken, alle mit gewaltiger politischer oder finanzieller Macht ausgestattet, alle von dem Gedanken beseelt, der Kirche wieder die überlegene Machtposition zu verschaffen, die sie vor der unheilvollen Reformation besessen hatte. Casagrande fand es in gewisser Weise amüsant, sich Diskussionen darüber anzuhören, wo die wahre Macht in der römisch-katholischen Kirche liege. Bei der Bischofssynode? Beim Kardinalskollegium? In der Hand des Pontifex Maximus selbst? Nein, sagte sich Casagrande. Die wahre Macht in der Kirche liegt hier, in dieser Kapelle auf einem Hügel außerhalb Roms, in den Händen dieser geheimen Bruderschaft.
Ein Geistlicher schritt zum Altar:
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