Die Loge
Bartoletti im »L'Eau Vive« das elektrische Knistern der Instabilität spüren konnte? Einfach abtun konnte er diese Frage nicht, denn das wäre ein durchsichtiger Täuschungsversuch und somit ein Verstoß gegen die fein austarierten Regeln gewesen, die für ihre Beziehung galten.
»Wir befinden uns in der unsicheren Anfangsphase eines neuen Papsttums«, sagte Casagrande mit kritischer Neutralität im Tonfall. »Der Fischerring ist geküßt, die Treueschwüre sind geleistet worden. Er hat nach alter Tradition zugesichert, die Arbeit seines Vorgängers fortzusetzen, aber die Erinnerung an den Polen verblaßt rasch. Lucchesi hat die päpstlichen Gemächer im zweiten Stock renovieren lassen. Die ›Eingeborenen‹, wie Sie sie nennen, fragen sich, was als nächstes kommen wird.«
»Und was kommt als nächstes?«
»Der Heilige Vater erzählt mir nicht, was er mit der Kirche vorhat, Achille.«
»Ja, aber Sie haben erstklassige Quellen.«
»Eines kann ich Ihnen sagen: Er hat sich von den Mandarinen der Kurie isoliert und sich mit bewährten Mitarbeitern aus Venedig umgeben. Die Mandarine bezeichnen seinen Stab als den Zehnerrat. Gleichzeitig kursieren alle möglichen Gerüchte.«
»Zum Beispiel?«
»Daß er eine Entstalinisierung durchführen will, um den postumen Einfluß des Polen zurückzudrängen. Mit wichtigen personellen Veränderungen im Staatssekretariat und in der Glaubenskongregation wird gerechnet – und die sollen erst der Anfang sein.«
Außerdem will er auch die dunkelsten Geheimnisse der Vatikanarchive ans Licht zerren, dachte Casagrande, ohne Bartoletti jedoch davon zu erzählen.
Der Geheimdienstchef beugte sich eifrig nach vorn, wollte mehr hören. »Aber er hat nicht vor, die Heilige Dreifaltigkeit brennender Fragen anzugehen, was? Geburtenkontrolle? Zölibat? Priesteramt für Frauen?«
Casagrande schüttelte ernst den Kopf. »Das würde er nicht wagen. Die Kontroversen wären so gewaltig, daß die Kurie rebellieren würde und sein Papsttum zum Untergang verdammt wäre. ›Relevanz‹ lautet das neue Schlagwort im Vatikanpalast. Der Heilige Vater will, daß die Kirche im Leben einer Milliarde Katholiken in aller Welt, von denen viele täglich Hunger leiden, relevant wird. Die alte Garde hat sich nie um Relevanz gekümmert. Für sie klingt ›Relevanz‹ ähnlich wie Glasnost oder Perestroika und macht sie sehr nervös. Die alte Garde schätzt Disziplin und Gehorsam. Geht der Heilige Vater zu weit, ist der Teufel los.«
»Wenn man vom Teufel spricht …«
In dem großen Raum wurde es nochmals still, doch diesmal war daran nicht Casagrande schuld. Als dieser den Kopf hob, erkannte er Kardinal Brindisi, der zu einem der privaten Hinterzimmer des Restaurants unterwegs war. Seine blaßblauen Augen schienen die gemurmelten Begrüßungen der im Kurienrang unter ihm Stehenden kaum wahrzunehmen, aber Casagrande wußte, daß Kardinal Brindisis fehlerloses Gedächtnis die Anwesenheit jedes einzelnen genau registriert hatte.
Casagrande und Bartoletti wandten sich ihrer Bestellung zu. Der Geheimdienstchef studierte die Speisekarte wie den Bericht eines verläßlichen Agenten. Casagrande dagegen wählte das erste Gericht, das ihm halbwegs interessant erschien. In den folgenden zwei Stunden tauschten sie bei einem üppigen Mahl, bei dem sie maßvoll tranken, Informationen, Gerüchte und Klatsch aus. Dies war ein monatliches Ritual, eine der gewaltigen Dividenden von Casagrandes Wechsel in den Vatikan, der nun schon zwei Jahre zurücklag. Seit der Zerschlagung der Roten Brigaden stand er in solchem Ansehen, daß die italienische Regierung jedes seiner Worte für die absolute Wahrheit hielt. Was Casagrande will, bekommt Casagrande. Die Organe der italienischen Staatssicherheit arbeiteten jetzt praktisch für den Vatikan, und Achille Bartoletti war eines seiner wichtigsten Projekte. Die aus Vatikanintrigen bestehenden Nuggets, die Casagrande ihm hinwarf, waren für ihn wie pures Gold. Genau wie Privataudienzen beim Papst und Sitze in der ersten Reihe bei der Christmette im Petersdom konnten sie dazu dienen, seine Vorgesetzten zu beeindrucken und zu unterhalten.
Aber Casagrande hatte weit mehr zu bieten als nur Kurientratsch. Der Vatikan besaß einen der größten und effektivsten Nachrichtendienste der Welt. Casagrande kamen oft Dinge zu Ohren, die Bartoletti und seinem Dienst entgingen. Beispielsweise hatte Casagrande erfahren, daß tunesische Terroristen über Ostern in Florenz Anschläge auf Touristen
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