Die Loge
Herz-Jesu-Kloster in Brenzone! Damals war das ein ziemlicher Schock für mich. Die Erscheinung des Staatssekretärs nicht minder. Er war ein kleiner, kränklich aussehender Mann mit dicken Brillengläsern, die seine Augen unnatürlich vergrößerten. Er schien eine schreckliche Erkältung zu haben, denn er rieb sich ständig mit einem weißen Taschentuch die Nase.
Die Delegationen setzten sich sofort zum Abendessen. Herr Luther und Herr Beckmann lobten den schönen Raum, und ich war sehr stolz auf meinen Erfolg. Ich trug das Essen auf und entkorkte die ersten Weinflaschen. Die Mahlzeit wurde in animierter Stimmung eingenommen, und die am Tisch sitzenden fünf Männer scherzten gutgelaunt miteinander. Ich hatte den Eindruck, Herr Luther und Bischof Lorenzi seien alte Bekannte. Die Äbtissin hatte anscheinend vergessen, ihnen zu sagen, daß ich aus Bruneck in Südtirol stammte, denn sie sprachen in meiner Gegenwart ungeniert deutsch, weil sie offenbar glaubten, ich verstünde diese Sprache nicht. Ich hörte viel interessanten Klatsch über alle möglichen Ereignisse in Berlin.
Die eigentliche Konferenz begann um Mitternacht. Bischof Lorenzi sagte auf italienisch zu mir: »Vor uns liegt viel Arbeit, Schwester. Sorgen Sie bitte dafür, daß genügend Kaffee da ist. Sehen Sie eine leere Tasse, gießen Sie einfach nach.« Die übrigen Schwestern waren um diese Zeit schon zu Bett gegangen. Mein Platz war draußen im Vorzimmer des Gemeinschaftsraums. Nach kurzer Zeit erschien unser kleiner Küchenjunge in seinem Schlafanzug. Er war ein Waisenkind, das im Kloster Aufnahme gefunden hatte. Wir Schwestern hatten ihm den Kosenamen Ciciotto , Dickerchen, gegeben. Er war von einem schlimmen Traum aufgewacht. Ich lud ihn ein, mir ein wenig Gesellschaft zu leisten. Um ihn zu beruhigen, beteten wir den Rosenkranz.
Als ich später wieder den Konferenzraum betrat, wurde mir klar, daß die Männer keineswegs über einen Verhandlungsfrieden zur raschen Beendigung des Krieges sprachen. Staatssekretär Luther war gerade dabei, den vier anderen je ein Memorandum zu übergeben. Während ich Kaffee nachgoß, konnte ich es recht gut erkennen. Es hatte zwei Spalten, zwischen denen ein senkrechter Strich verlief. Links standen die Namen von Ländern und Gebieten, rechts waren Zahlen eingesetzt, die unten eine Gesamtsumme bildeten.
Herr Luther sagte soeben: »Das Programm mit dem Ziel einer Endlösung der Judenfrage in Europa ist gut angelaufen. Die Ihnen vorliegende Aufstellung habe ich im Januar bei einer Konferenz in Berlin erhalten. Wie Sie sehen, gibt es nach sorgfältigen Schätzungen gegenwärtig elf Millionen Juden in Europa. Diese Schätzungen betreffen Gebiete, die das Reich oder seine Verbündeten kontrollieren, wie auch Staaten, die neutral sind oder auf seiten des Feindes stehen.«
Er machte eine Pause und sah zu Bischof Lorenzi hinüber. »Kann das Mädchen Deutsch?«
»Nein, nein, Herr Luther. Sie ist ein armes Mädchen vom Gardasee. Sie spricht ausschließlich Italienisch – und selbst das nur wie eine Bäuerin. Sie können in ihrer Gegenwart ungeniert reden.«
Ich wandte mich ab, verließ den Raum und tat so, als hätte ich die schrecklich beleidigenden Dinge, die der Bischof über mich gesagt hatte, nicht verstanden. Anscheinend sah man mir meine Verlegenheit jedoch an, denn als ich ins Vorzimmer kam, fragte Ciciotto : »Ist irgendwas nicht in Ordnung, Schwester Regina?«
»Nein, nein, mir fehlt nichts. Ich bin nur ein bißchen müde.«
»Beten wir den Rosenkranz weiter, Schwester?«
»Bete du ihn, Kind. Aber bitte ganz leise.«
Der Kleine betete weiter, aber schon kurze Zeit später schlief er mit dem Kopf auf meinem Schoß ein. Ich öffnete die Tür einen Spaltbreit, damit ich hören konnte, was im Konferenzraum gesprochen wurde. Das Wort hatte weiterhin Herr Luther. Ich gebe hier nach bestem Wissen und Gewissen wieder, was ich in jener Nacht hörte.
Staatssekretär Luther sagte: »Trotz aller unserer Bemühungen, die Abtransporte geheimzuhalten, werden leider immer mehr Einzelheiten darüber bekannt. Nach Mitteilung unseres Botschafters beim Heiligen Stuhl kommen solche Berichte Seiner Heiligkeit allmählich zu Ohren.«
Bischof Lorenzi erwiderte: »Das ist tatsächlich der Fall, Herr Staatssekretär. Berichte über Abtransporte haben auch den Vatikan erreicht, fürchte ich. Die Engländer und Amerikaner setzen den Heiligen Vater gewaltig unter Druck, dagegen zu protestieren.«
»Darf ich ganz offen sprechen,
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