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Die Logik des Verruecktseins

Titel: Die Logik des Verruecktseins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Preiter
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Strecke aussteigt, ist ein unglücklicher Mensch. Er ist von nun an Anhalter an den Lebensgleisen anderer. Dass diese seine Not sehen, seine Bedürftigkeit wahrnehmen, selbst anhalten und sich seiner bergend annehmen, ist die evolutionär gewachsene Strategie depressiver Selbst- und Fremdkommunikation. Mit Hilfe der anderen kann unter Umständen der eigene Lebenszug umrangiert und auf ein neues Gleis gesetzt werden.
    Wenn dies gelingt, kann wieder Fahrt aufgenommen und Selbstsicherheit zurückgewonnen werden. Die Depression hätte somit erfolgreich den Konflikt gelöst, der sie verursacht hat. Wenn alles gut geht, ist sie eine evolutionär gewachsene Superwaffe sozial lebender, intelligenter Wesen. Ein Teil ihrer Brisanz, ihrer Dringlichkeit und Verzweiflungsausprägung, wie ich sie bei der klinischen Arbeit sehe, entsteht allerdings dadurch, dass sie entwickelt wurde für das Leben in Gemeinschaften, die numerisch übersichtlich sind, allenfalls hundertfünfzig Individuen umfasst, und von großer Gegenseitigkeit geprägt sind. Unsere menschlichen Vorfahren lebten über viele Hunderttausende von Jahren in solchen Bezügen mit großer Wechselseitigkeit und »verfeinerten« evolutionär die Superwaffe »Depression«, die bei unseren äffischen Vorfahren bereits erfunden worden war, erfolgreich immer weiter. Mit der Sesshaftwerdung und vor allem mit dem modernen Leben in anonymen Verhältnissen änderte sich auch das Bild der Depression: Die Wunderwaffe wurde stumpf und löst immer seltener die Konflikte, die sie auslöst.
     
    Natürlich können auch Menschen mit gänzlich anderen Persönlichkeitszügen als die beschriebenen Altruisten eine Depression entwickeln, ebenso kann ihr Aussehen, wie später deutlich werden wird, andere Binnenvolumen und Außenbühnenthemen annehmen. Sehen wir uns nun den Zusammenhang zwischen Leben in sozialen Einheiten und einer speziellen Gruppe psychiatrischer Erkrankungen genauer an.

Serienschaltungen und ihre Schattenseiten
    Wir haben bei unserer Reise durch die Evolutionsgeschichte sehen und verstehen gelernt, warum Menschen Individuen sind, die bereit sein müssen, sich in Serie schalten zu lassen. Serienschaltungen reichen in ihrer Teilnehmerzahl von der Paarschaltung in einer dyadischen Beziehung über triadische Beziehungen des Zu-dritt-Seins weiter über Familiengrößen und noch größere Familienverbände und sind darüber hinaus offensichtlich numerisch fast unendlich ausdehnbar. Das Gefühl, mit anderen in einem Bestimmungsboot zu sitzen und ein gemeinsames Was-auch-immer-Schicksal zu teilen, ist der Nährboden von Nationalismus, Faschismus, Kommunismus, aber auch von Demokratie. Manche möchten die Serienschaltung in unserer Zeit auf die gesamte jetzt lebende Menschheit ausdehnen, indem sie ein Bild der Jetztzeit entwerfen, die mit Blick auf die Weltökologie einer gefährlichen Fahrt auf der Titantic mit drohender Eisbergkollision gleicht. Ob man tatsächlich handlungsrelevant gegenüber einer über den ganzen Erdball verstreut lebenden Masse an Menschen empathisch solidarisch sein kann, bleibt »abzuwarten«.
    Militärische Interventionen, bei denen es um Leben und Tod geht, »leben« davon, dass untereinander nur semibekannte Individuen eine identifizierende und infizierende Solidarität zwischen sich generieren, die in der Serienschaltung den anderen zu einem Teil von mir macht. Fällt der andere, ist es so, »als wär’s ein Stück von mir«. 79 Man geht gemeinsam gegen die Individuen vor, die nicht mit einem selbst zur Serie geschaltet sind, sondern vielmehr eine eigene Serienschaltung aufgebaut haben. Die Primatologin Jane Goodall war entsetzt, als sie in den 1970er-Jahren an frei lebenden Schimpansen kriegsähnliche Handlungen beobachtete, welche ausgebrochen waren, nachdem eine Teilgruppe von Schimpansen sich aus der Hauptgruppe herausgelöst hatte und versuchte, eine neue, autonome Gruppe aufzubauen. Erwachsene Männchen der Hauptgruppe streunten daraufhin durch das Gelände und griffen die »Abtrünnigen« an. Dabei kam es zu massiven körperlichen Tätigkeiten mit Todesfolge. Diese und andere Beobachtungen zerstörten bei Jane Goodall das Bild des
»guten« Affen, das sie selbst vorher öffentlich kolportiert hatte. 80 Man könnte auch hier sagen, viel Unglück des Menschen kommt daher, dass das Seelenlabyrinth evolutionär gewachsene sozioemotionale Adapter besitzt, die auf Anschluss warten, jeder Anschluss immer mit einem Ausschluss der Nichtangeschlossenen

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