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Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thorsten Nesch
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weiter, und wenn es sein musste auch mit der rechten Hand. Die Hauptarbeit machten meine Beine. Mit den Füßen stieß ich mich von Stangen und Platten ab und schob meinen Körper Zentimeter um Zentimeter vorwärts. Wann immer es ging, stützte ich mich dabei mit den Ellbogen ab und hob meine Hüfte an, damit ich mich nicht zu sehr gegen den Widerstand des tiefen Schlicks anzustemmen brauchte.
      Mein Keuchen überlagerte alle anderen Geräusche. Obwohl ich mich wie ein Wurm fortbewegte, ging mein Atem schwer. Gelegentlich knarrte und quietschte es über oder hinter mir, wenn ich mich mit den Füßen an Gegenständen abstützte.
      Mit einem Ächzen fiel hinter mir etwas um, und es gab einen hohlen Schlag von Metall auf Metall. Instinktiv zog ich die Beine an, so weit es ging, aber ich konnte sie nur halb anwinkeln, bevor ich auf Widerstand stieß. Bis ich mich so gedreht hatte, dass ich nachsehen konnte, was da passiert war, bewegte sich nichts mehr, und es war mir unmöglich den Ursprung des Geräuschs herauszufinden. Ich musste mich mit meinen Füßen abgestützt und dabei etwas aus seiner Verankerung gebrochen haben.
      Was blieb mir anderes übrig? Ich musste weiter, und ich musste weiterhin meine Füße zur Hilfe nehmen.
     
     
    Halb verdeckt unter einem der Länge nach geborstenen Holztisch lag inmitten des Schmutzes ein glänzender roter Frauenschuh mit hohem Pfennigabsatz. Unvermittelt schaute ich nach oben, als könnte dort der Fuß oder das Bein herunterbaumeln.
      Über mir war nichts als der übliche Schutt und eine Reihe verkeilter Sitzreihen zu sehen. Keine Menschen, keine Verletzten, keine Toten. Dennoch rief ich erst, „Hallo?“, und als sich niemand meldete, rief ich auch nach Herrn Baehr. Aber er hätte sich sowieso gemeldet, wäre er bei Bewusstsein gewesen.
      Weitere, an mögliche Retter gerichtete Hilferufe blieben unerhört.
      Ich zog den Schuh hervor, und das Tischchen sackte zu Boden. Auf der Seite liegend drehte ich den Schuh in meiner Hand und besah ihn mir, als hätte jemand darauf den Notausgang aus diesem Chaos notiert. Aber ich hielt nichts weiter als einen sauberen, linken, roten Frauenpump in meinen Händen. Er sah aus wie neu oder selten getragen, auf der Innensohle war die Marke Pedetto gut zu lesen, als käme er frisch aus der Fabrik.
      Billig war das Paar nicht, es sei denn, es handelte sich um eine Fälschung.
      Hatte die Frau den Schuh getragen während des Unfalls? Oder hatte sie es sich gemütlich gemacht, die Füße auf den Sitz gegenüber hochgelegt, entspannt, gelesen? Waren wir uns vor dem Unfall begegnet? Verschiedene Gesichter tauchten in meiner Erinnerung auf, aber keines passte, keine der Frauen, die an meinem Platz vorbeigegangen waren, hatte rote Pumps getragen. Das wäre mir aufgefallen.
      Ich stellte den Schuh aufrecht auf den Tisch und kroch daran vorbei, ohne meinen Blick von ihm abzuwenden.
      Was für ein Bild. Der Schuh, als einziges Zeichen von Schönheit und Erotik, umgeben von all dem Tod, Zerfall und Stahl. Ein Schrein der Ästhetik, der geschwungenen Linien und der Phantasie über seine Trägerin, inmitten dieser Trümmer.
      Was war sie für eine Frau gewesen? Eine Geschäftsfrau? Blond, brünett?
      Bevor das Tischchen mit dem roten Schuh bei meiner nächsten Vorwärtsbewegung, die mich um die Reste einer Kabinensäule herumführen würde, endgültig aus meinem Blickfeld entschwand, blickte ich mich noch einmal um. Einen Meter hinter mir trotzte der rote Pump der farblos grauen Umwelt.
      Im nächsten Moment kletterte der kleine Krebs auf das Tischchen, lief zu dem Schuh und untersuchte ihn mit seinen Zangen. Er tippte mit einer Schere dagegen und klopfte an, als könnte jemand zu Hause sein. Das Tier bewegte sich seitwärts fort, zögernd, einmal ganz um den Schuh herum. Sicherlich hatte er so was noch nie gesehen. Konnte er Farben erkennen?
      Seine Augen und Zangen und Beine schenkten jeder Linie des Schuhs ihre höchste Aufmerksamkeit. Umständlich krabbelte er zwischen Pfennigabsatz und Sohle hin und her und untersuchte den Pump. Schließlich kam er aus seiner dreieckigen Höhle heraus, lief zur Spitze des Schuhes und kletterte über sie hinein, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte.
      Ich lächelte kurz. Tschüss, dachte ich und wandte mich meinem Weg zu.
      Tschüss, Thomas, bis später.
     
     
    Hinter einem großen, von seiner Polsterung gerissenen Stofflappen, entdeckte ich anstatt eines schmalen Pfades einen größeren

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