Die Lokomotive (German Edition)
spürte den mehligen Schlamm auf meinen Wangen und auf meiner Stirn. Ich hielt mir die Ohren zu, um mich nicht selber hören zu müssen, und ich umklammerte mich mit meinen Armen, um mich nicht so alleine zu fühlen.
„Herr Ochs, Herr Ochs!“, undeutlich drang die schwache Stimme von Herrn Baehr zu mir, dann sein Stöhnen, sein Räuspern, „Hallo, Herr Ochs, sind Sie das?“
„Ja“, mehr brachte ich nicht hervor.
„Weinen Sie?“
„Nein.“
„Es hat sich so angehört.“
Das musste es wohl. Aber wenn ich es zugeben würde, dann müsste ich ihm auch von dem Grund erzählen. Wegen eines Krebses.
„Möchten Sie mir sagen, warum?“
Er akzeptierte mein Nein nicht, und ich wollte nach wie vor nicht sagen, dass ein Krebs meinen Gefühlsausbruch verursacht hatte, weil er durch mich so starb, wie ich mir mein eigenes Ende hier unten ausgemalt hatte, plötzlich, unvermittelt, willkürlich, und dass er das einzige sichtbare Lebewesen für mich gewesen war.
„Herr Ochs?“
„Ja. Es ist schon wieder gut. Es war nichts, nur ein vorübergehendes Gefühl.“
„Moment mal ... ihre Stimme klingt anders. Sie haben sich bewegt! Das höre ich doch. Stimmt’s?! Sie haben sich bewegt!“
„Ja, das habe ich“, und wenn ich die Richtung seiner Stimme richtig einschätzte, dann hatte ich mich ihm wirklich genähert.
„Sie klingen näher.“
„Sie auch.“
„Wo sind Sie?“
„Ich weiß nicht“, ich konzentrierte mich auf seine Stimme, vielleicht nur, weil ich nicht alleine sterben wollte.
„Aber das ist gut.“
„Was?“
„Sie bewegen sich! Wie kommen Sie voran?“
„Nach ihrer Stimme zu urteilen, müsste ich mich in ihrer Richtung bewegt haben.“ Wieder peilte ich vergeblich durch den Schutt in die Richtung, wo ich ihn vermutete.
„Sie sollen raus hier, nicht zu mir! Ich bin nur ein Klotz am Bein.“
„Lassen Sie das meine Sorge sein.“
„Ach, was soll das. Sie müssen hier raus!“
„Sie auch.“
„Nein, das muss ich nicht“, widersprach er mir.
„Das ist Ihre Meinung“, ich erwartete einen weiteren Kommentar ab, den er aber nicht gab, also bat ich ihn mit kontrolliert ruhiger Stimme, „Könnten Sie vielleicht weiterreden. Dann kann ich Sie leichter finden.“
„Worüber soll ich erzählen? Ich möchte Sie nicht langweilen.“
„Ich liege und krieche seit einer Ewigkeit unter einem entgleisten Zug hin und her. Ich bin weit entfernt von Langeweile.“
„Ich glaube allerdings nicht, dass es gut ist, mich zu finden. Helfen kann ich Ihnen nicht. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich in der richtigen Richtung liege, wo es einen Ausgang gibt.“
„Das weiß ich auch nicht. Solange ich das nicht weiß, würde ich Sie gerne finden. Außerdem hätte mich das Wasser dort, wo ich gelegen hatte, bereits eingeholt.“
„Und jetzt?“
„Sehe ich es nicht mehr.“
„Es berührt meine Haare“, sagte er.
War es dann wirklich sinnvoll, mich zu ihm durchzukämpfen? Sollte ich besser von seiner Stimme weg und somit weg vom Wasser in die andere Richtung kriechen!?
„Herr Ochs? Sind Sie noch da?“
„Ja.“
„Sie waren auf einmal so still.“
„Ich habe überlegt.“
„Was?“
„Ob der andere Weg irgendwohin führt.“
„Welcher andere Weg?“
„Vorhin hatte ich die Wahl. Und ich bin in eine Sackgasse gekrochen. Ich bin gerade auf dem Rückweg.“
„Haben Sie deswegen ... so ... verzweifelt geklungen?“
„Ja.“
„Geben Sie nicht auf.“
„Nein, das tue ich nicht“, mir war flau im Magen. Hunger mischte sich mit Stress.
„Versprechen Sie es.“
„Was soll das denn jetzt?“
„Na, was ist?“, fragte er.
„Was ist was?“
„Versprechen Sie es. Versprechen Sie, dass Sie nicht aufgeben werden!“
Ich atmete tief ein, „Ja, ich verspreche, ich gebe nicht auf.“
„Egal, was kommt.“
„Das ist lächerlich.“
„Egal, was kommt“, wiederholte er.
„Meinetwegen, egal was kommt.“
„Gut.“
Ich fragte mich, was denn gut war, aber ich setzte meinen Weg fort.
Die Kreuzung bei den zerstörten Polstern stand mittlerweile eine Handbreit unter Wasser.
„Hören Sie das?“, rief ich Herrn Baehr zu und schlug mit der flachen Hand auf die trübe Brühe.
„Was soll ich hören?“
„Wasser, hier ist überall Wasser.“
„Können Sie erkennen, aus
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