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Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thorsten Nesch
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Durchgang, der mich zum ersten Mal wieder auf allen Vieren krabbeln ließ. Und dies war das erste Mal, dass ich eine Wahl hatte. Bisher hatte sich der Weg stets von selbst ergeben.
      Zuerst streckte ich mich nach allen Seiten, um meine Gelenke und Muskeln für den Weg zu lockern. Dann raste ich förmlich los, zumindest kam es mir so vor, nachdem ich bis dahin, ich weiß nicht, wie lange, um jeden Zentimeter Boden hatte kämpfen müssen.
      Es ging zwei Meter gut, die mich in einem 90-Grad-Winkel nach links führten, dann robbte ich wieder flach durch den Morast, vorbei an einem ausgelaufenen Feuerlöscher. Die weiße, schaumige Masse breitete sich rings um ihn aus. Es war, als tauchte ich in eine neue Welt. Nach der wirklichen Welt da oben, dem Chaos hier unten, nun dieser Planet aus weißem Schaum. Sämtliche Trümmerteile und der Boden waren mit dem Löschschaum überzogen. So hob die helle Oberfläche alle Schatten auf, und sie fühlte sich an wie der Rasierschaumrest aus einem leeren Behälter, der nicht mehr für eine vernünftige Nassrasur reichte, mit dem man es aber wider besseres Wissen dennoch versuchte.
      Ich spürte all die kleinen Kratzer an meinen Händen, Knien und Füßen. Während ich durch den weichen Schaum kroch und hinter mir eine breite Schleifspur herzog, brannten die Chemikalien in den offenen Wunden, die ich mir auf meinem Weg nach und nach zugezogen hatte, viele unbemerkt aufgrund der Konzentration und der Kälte.
      Meine verletzte Hand hielt ich hoch, benutzte lediglich den Ellenbogen zur Fortbewegung. Kurz empfand ich die entstandene Schleifspur als Vorteil, weil mir so jemand folgen konnte. Aber wer sollte mir folgen? Rettungssanitäter würden sicherlich nicht in den Berg aus Trümmern kriechen, sie würden ihn abtragen lassen.
      Ich ließ die weiße Welt hinter mir. 
      Gestank penetrierte meine Nase. Voller Sorge, ein weiteres Opfer zu entdecken, spähte ich durch das mich umzingelnde Gewirr. Was meine Augen fanden, waren die pastelltürkisfarbenen Überreste einer Toilette zwei Meter rechts von mir. Und mein Weg führte mich genau in jene Richtung.
      Nach dreimaligem trockenen Würgen hatte ich mich so weit an den Gestank gewöhnt, dass ich meinen Körper weiterschleppen konnte. Die Wände, die Kloschüssel, das Becken und die Türe lagen in einem Durcheinander verkeilt. Über mir pellte sich ein Schild vom türkisen Plastik: Bitte verlassen Sie den Raum so, wie Sie ihn vorfinden möchten. Danke!
      Gerne hätte ich das getan. Was mir schlimmer aufstieß als der Gestank nach Urin und Kot, war die Tatsache, dass dieser Weg hier ein jähes Ende nahm. Eine Sackgasse. Ich war in eine Sackgasse gekrochen. Meine Befürchtung wurde mit einem Schlag wahr.
      Um mich zu vergewissern, rüttelte ich an verschiedenen Streben und Platten. Sie ließen sich nicht bewegen. Ein Versuch, meinen Körper zwischen zwei Hindernissen hindurchzuzwängen, scheiterte. Ich wollte auch nicht riskieren, dass ich mich zwischen den Trümmern einklemmen würde und verdammt wäre, dort zu sterben.
      Ich hatte wertvolle Zeit verloren gegen die kommende Flut, und ich wusste noch nicht einmal, ob ich mich in die richtige Richtung bewegt hatte.
      Wieder rief ich Herr Baehr, aber er gab keine Antwort. Er war ohnmächtig. Zumindest hoffte ich das.
      Für einen Moment blieb ich erschöpft auf dem Rücken liegen und lehnte meinen Kopf gegen einen bunten Kabelbaum. Die Anspannung verließ meinen Körper, meine Muskeln entspannten sich, sogar meine Kiefer. Sie schmerzten, vermutlich, weil ich sie die ganze Zeit verkrampfte.
      Die Kraft wich der Müdigkeit, die über mich hineinschwappte wie eine Welle gefährlicher Wärme. Es wäre ein Leichtes gewesen, der Erschöpfung nachzugeben und einzuschlafen, aber es wäre ungewiss gewesen, ob ich noch einmal aufwachen würde. Schwieriger war es, meine müden Knochen vom Weiterkämpfen zu überzeugen. Mühsam hob ich meinen Kopf, meine Arme. Im gleichen Moment sah ich aus den Augenwinkeln, wie sich etwas rechts von mir bewegte, und diesmal war es nicht der Krebs.
      Ich war es selbst. Mein Spiegelbild. Mein dunkles, entstelltes Gesicht brach sich in einer Scherbe des zersplitterten Toilettenspiegels. Der Kasten, der gewöhnlich über dem Waschbecken hing, lag zerstört auf der Seite, und das Stück Spiegel ragte aus dem Matsch wie ein großes Karo, eine Ecke im Boden, ein Diamant voller Risse, die ihn durchzogen wie übereinandergelegte Charts extremer

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