Die Lokomotive (German Edition)
Aktienkursverläufe.
Erst drehte ich den Kopf ein wenig, so dass das Weiß meiner Augen gerissen auf der Oberfläche erschien. Die Brüche im Spiegel entstellten mein Gesicht, wie ich es anfangs richtig gedeutet hatte. Ich näherte mich meinem Spiegelbild mit der Vorsicht eines Schlangenbeschwörers, der sich dem Reptil nähert, langsam und ohne die Augen von ihm zu lassen.
Das einzig Menschliche an mir schien das Weiß meiner Augen zu sein. Mein Gesicht war von einer Kruste fremden Blutes und Dreck bedeckt, meine Haare verklebt zu fingerdicken Kutteln. Ich grunzte mich an, wild, ein Geräusch, das ich noch nie ausgestoßen, ich noch nie von mir gehört hatte. Aber es schien zu der ungepflegten, unzivilisierten Maske zu passen. Wo war der glattrasierte Broker geblieben? Wem schaute ich da in die Augen, wer verbarg sich hinter diesem Urzeitmenschen? Ich rieb mir meine Wangen. Schlaff verzog sich meine Gesichtshaut, meine Lippen. Getrocknete Placken und Krusten platzten ab, bröselten zu Boden und gaben den Blick frei auf meine graue Haut.
Irgendwo platschte ein Trümmerteil ins Wasser, und ich wandte meinen Kopf ab.
Mir blieb nichts anderes übrig, ich musste den Weg zurückriechen.
Mein Hemd rutschte hoch, Matsch drang ein, kalt und glitschig, und einige Male das Stechen von unsichtbaren Nadeln, kleinen Glassplittern.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich mit den Füßen voran den weißen Abschnitt mit dem Feuerlöschschaum passiert hatte und wieder mehr Platz hatte. Drehen konnte ich mich nicht, aber ich konnte mich wieder aus meiner liegenden Position aufrichten, und auf allen Vieren ließ es sich rascher rückwärts kriechen.
Ein Bersten und Knacken unter meinem Knie bremste mich in meiner Bewegung. Ich blickte unter mir durch zu der Kuhle, die mein jetzt angehobenes Knie in den Schlick gedrückt hatte.
Reglos lag dort die geplatzte Schale des kleinen Krebses in einer Brühe aus Schlick, Salzwasser und seinen Gedärmen. Schleimige Fäden zogen sich vom zerbrochenen Torso des Tieres zu meinem Knie. Drei Beine losgelöst von seinem Körper. Tot.
Seine Überreste lagen verstreut wie in einem Bombentrichter, während sich seine Glieder mir anklagend aus seinem feuchten Grab entgegenreckten.
Was 1000 Tonnen instabilen Stahls nicht vermocht hatten, schaffte ich mit meinem Knie. Selbst der weiche Boden hatte ihm keinen Schutz geboten. Musste der Krebs denn ausgerechnet meinen Weg kreuzen, als ich rückwärts kroch, als ich nicht sehen konnte, wohin es ging?
„Hey“, sagte ich und hörte die Trauer in mir. Tränen rannen an meinen Wangen herab und fielen lautlos auf den Schlick. Speichel tropfte aus meinem aufgerissenen Mund zu Boden.
War es überhaupt mein Krebs gewesen? Es gab zig solcher Krebse. Vielleicht war mein Krebs auch derer vieler, handelte es sich nicht um einen, sondern um mehrere, die mich besucht hatten. Woran sollte ich einen Krebs von einem anderen unterscheiden können?
Was tat ich hier? Ich kroch hin und her, ziellos, unter einem Berg aus Trümmern zwischen Toten und Metall und zerstörte dabei das wenige Leben, das es hier gab. Ich wischte meine Augen an den Schultern ab und räusperte mich mehrmals.
Hastig winkelte ich das Bein an und besah mir den Schleimklumpen am Knie. Auch einige Schalenstücke klebten daran. Mit bloßen Händen würde ich die sicherlich noch warmen Innereien nicht anfassen.
Hektisch schaute ich mich nach einem Werkzeug um. Ich suchte sicherlich zu lange, zu unkonzentriert, denn mein Blick musste bereits etliche Male über die blaue Plastikscheibe geschweift sein, bevor ich sie endlich registrierte. Mit ihr kratzte ich die Reste des Krebses von meinem Knie. Mehrmals putzte ich meinen Spachtel am Boden oder an Trümmerteilen ab, um gleich danach weiter die glibberige Suppe von meinem Bein zu schaben, bis nichts mehr an den Krebs erinnerte.
Erst dann warf ich das Stück Plastik so weit weg wie möglich und schaufelte mit meiner gesunden Hand Matsch auf das Knie, so dass es wieder genau so dreckig aussah wie das andere.
Ich schluchzte, ich heulte. Ich konnte mich gar nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal in meinem Leben geweint hatte, und jetzt musste ich feststellen, ich hörte mich an wie ein Schauspieler in einer Telenovela. Bei dem Gedanken mutierte mein Weinen über einen erzwungenen Lachversuch zu dem erstickten Meckern einer kranken Ziege.
Mit beiden Händen hielt ich mein Gesicht und
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