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Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thorsten Nesch
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welcher Richtung es auf Sie zufließt?“
      Das war leicht zu sehen. Auf dem Dreckwasser trieben helle Fetzen Plastik und Papier zu mir.
      „Es kommt aus der Richtung, wo ich eingeklemmt gelegen habe.“
      „Dann liegt in der Richtung höchstwahrscheinlich das offene Meer. Immerhin bewegen Sie sich dann nicht auf das Meer zu.“
      „Und in der Gegenrichtung ist der verkeilte Zug, der Damm, die meisten Trümmer. Richtung Meer müsste es weniger Trümmerteile geben. Ist da nicht ein Ausweg wahrscheinlicher?“
      „Nicht, wenn Sie ertrinken. Schauen Sie auch ab und zu über sich, wenn Sie kriechen? Vielleicht gibt es einen Schacht, der nach oben führt.“
      Meine Finger berührten die Wunde an meinem Hals.
      „Habe ich noch nicht gesehen.“
      „Das ist doch eigentlich unglaublich, wenn man mal drüber nachdenkt“, sagte er.
      „Was?“
      „Dass ... ich meine, man kann eingeklemmt irgendwo liegen unter all den Trümmern und kein Sonnenstrahl erreicht einen, aber Sie kriechen jetzt schon eine ganze Weile umher und haben noch nirgends einen Funken Tageslicht gesehen? Keinen Spalt?“
      „Nein.“
      „Das kann ich wirklich nicht glauben.“
      „Können sie aber.“
      „Kommt Ihnen das gar nicht komisch vor?“
      „Was soll daran komisch sein? Ein langer Zug kollidiert auf offener Strecke mit einem anderen, die Wagons schieben sich ineinander, übereinander. Die Trümmer können dann doch durchaus eine größere Fläche bedecken, kann ich mir vorstellen.“
      „Na ja.“
      „Und so weit bin ich nun auch noch nicht gekommen. Ein paar Meter, das ist alles.“
      So richtig überzeugte ihn das nicht, und mich auch nicht. „Außerdem habe ich nicht dauernd nach oben geschaut.“
      „Warum nicht?“, fragte Herr Baehr.
      „Weil mich beinahe eine Stange aufgespießt hätte, am Hals, als ich an ihr zog, um zu sehen, ob ich vielleicht senkrecht nach oben klettern konnte. Aber da lag das ganze Gewicht drauf. Nein-nein.“ 
      Nachdem die Stange meinen Hals verletzt hatte, war die Möglichkeit eines vertikalen Auswegs für mich gestorben. Ich hatte nicht allzu häufig über mich geschaut. Das ärgerte mich, von nun an würde ich darauf achten. Wer weiß, vielleicht hatte er Recht. Vermutlich hatte er Recht. Er musste Recht haben.
      „Hmh“, machte Herr Baehr undeutlich.
      Ich stellte mir noch einmal meine kleine Höhle vor, in der ich  eingeklemmt war. Hatte es da eine Möglichkeit gegeben, in eine andere Richtung zu kriechen? Nicht offensichtlich, aber ich musste mir eingestehen, dass ich nicht mit der gleichen Entschlossenheit herangegangen war wie jetzt. Nun bog ich Trümmer an Seite, schaffte mir Lücken, selbst da, wo keine waren. Zuvor hatte ich nur nach einem Weg gesucht.
      Wasser umspülte meine Knie.
      Ich schob meinen Körper in die schmale Allee aus Hydraulikzylindern und Bremsschläuchen. Auch eine Radachse war zu erkennen. Ich schabte mit meinem Rücken an dem kantigen Dach meines Pfades entlang, um nicht mit dem Bauch im Wasser liegen zu müssen. Das Wasser war kalt.
      „Herr Baehr. Wird das Licht schwächer, oder meine ich das nur?“
      „Nein, Sie haben recht. Ich denke, das ist so etwas wie ein Notstromaggregat in der Lok. Die Batterie wird nicht ewig halten.“
      Auch das noch, „Das wäre was, jetzt, hier kriechen ... ohne Licht ... na, Hauptsache, es flackert nicht mehr.“
      Wie war es möglich, dass ich Herr Baehr noch nicht gefunden hatte? Kroch ich im Kreis? Konnte das sein? War mein Orientierungssinn so schlecht?
      „Herr Baehr, Sie können doch gar nicht so weit von mir entfernt liegen, wenn Sie das Licht der Lokomotive erreicht.“
      „Das tue ich wahrscheinlich auch nicht.“
      Es war genauso möglich, dass ich vor Herrn Baehr jemand anders finden könnte, einen Überlebenden, verletzt, vielleicht ein Kind, ein Baby, lebend. Ich würde es beruhigen, mitnehmen, unter meinem Arm. Und ich würde aus den Ruinen steigen, dreckig, blutend, erschöpft und zerrissen, mit einem blonden Mädchen in meinen Armen, und so auf die staunenden Feuerwehrleute zuwanken, und die Polizei müsste die Journalisten und Kameraleute zurückhalten. Die Mutter würde aufschreien und auf uns zulaufen, und ich würde ihr ihr Baby reichen und danach erschöpft unter dem Jubel und Geklatsche der Menschen zusammenbrechen und das Bewusstsein verlieren.
     Vor mir rankte eine Schlaufe aus Kabeln wie ein Strick herunter. Einladend.
      Ich zog an dem

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