Die Lüge
als Rumpelkammer. Nur unter einer Schräge waren zwei schäbige Kartons abgestellt. Was sonst noch herumstand oder -lag , zeugte davon, dass in diesem Haus ein sehr sportlicher Mensch lebte. Skier, Taucherausrüstung, Schnorchel, Surfbrett, Sattel und andere Gerätschaften.
Nachdem Jo gegangen war, stieg sie erneut hinauf und schaute sich den Inhalt der Kartons an. In einem befand sich etwas ausrangierter und zusammengewürfelter Hausrat, wie man es bei einem armen Studenten erwartete, im zweitenMännerkleidung, die schon etliche Jahre hier liegen musste. Tatsächlich nur drei Paar Socken und etwas verschlissene Unterwäsche zwischen vergammelten Jeans und Shirts. Darunter lagen zwei Fotoalben.
Das erste zeigte Michael als Jugendlichen mit Mutter, Vater, Bruder bei diversen Gelegenheiten. Sie schlug das zweite Album auf in Erwartung eines grinsenden Jungen mit Zahnlücke und Schultüte oder Aufnahmen von ihm als Baby. Ein Baby sah sie auch. Im Arm einer hübschen Frau, neben der ein Mann stand, der fast so aussah wie ihr eigener Vater in jungen Jahren. Da hatte die Natur sich ihren Scherz wohl schon viel früher erlaubt. Mit stolzem Lächeln schaute der Mann auf den Säugling hinunter. Unter dem Foto stand ein Datum, Michael war fünf Jahre später geboren.
Das Album dokumentierte, dass Nadia aus einer sehr guten Position in ihr Leben gestartet und seit ihrer Geburt reichlich mit Gütern gesegnet war. Auf zahlreiche Kinderfotos in unterschiedlichen, sich gegenseitig an Pomp übertreffenden Umgebungen folgten Aufnahmen aus Nadias Jugend. Schulzeit im Internat, Dutzende junger Mädchen vor einem protzigen, schlossähnlichen Bau. Ferien allein auf dem Reiterhof und mit Papa an Bord einer Motoryacht. Nadia mit achtzehn im Abendkleid auf irgendeinem Ball, am Arm des stolzen Vaters. Nadia mit zwanzig am Flügel, neben ihr ein blonder Adonis im Frack, der zwei oder drei Jahre älter sein mochte. Sie spielten vierhändig. Unter allen Fotos stand das Datum der Aufnahme, unter manchen auch ein Ort, ein Stichwort zum Anlass oder Angaben zu den Personen, die mit Nadia abgelichtet worden waren. Unter der Aufnahme, die sie mit dem Adonis am Flügel zeigte, stand «Jacques».
Eine Bilderserie mit Palmen, weißem Sand und türkisfarbenem Wasser zeigte Nadia von vierundzwanzig bis achtundzwanzig im Jeep, in Taucherausrüstung, auf Wasserskiern,am Steuer eines Motorboots, auf einem Pferderücken, in und an einem Swimmingpool im Freien, an einer Hotelbar. Und immer dabei: Jacques. Das musste eine längere Beziehung gewesen sein.
Es ging weiter mit Nadias Karriere. Bei einer Weihnachtsfeier in altehrwürdigen Räumen im Kreise distinguierter Herren war Nadia Anfang dreißig gewesen, stand strahlend im Vordergrund mit einem Champagnerglas in der Hand. Auf der letzten Seite war nur eine großformatige Schwarzweißaufnahme eingelegt. Die fünfunddreißigjährige Nadia stand mit einem älteren Mann zusammen, der ihr eine Urkunde oder sonst etwas überreichte. Beide füllten das Bild fast aus und ließen kaum Platz für eine dritte Person, die an der Seite stand und Nadia anhimmelte.
Es war ein junger Mann. Sie erkannte ihn auf Anhieb, obwohl er rund fünf Jahre älter gewesen sein musste, als er in Schrags Büro ihren Weg gekreuzt hatte. Röhrler! Und er hatte sie im Januar offenbar für Nadia gehalten. Sie sah sich mit Nadia im Wald spazieren gehen, hörte sich von Röhrler und dem alten Herrn Schrag erzählen und beteuern, nicht in die Kasse gegriffen zu haben. Dieses verfluchte Biest! Nadia musste doch gewusst haben, dass Röhrler sie gemeint hatte. Aber warum hatte sie ihn an Wolfgang Blasting verraten? Hatte sie keine Angst gehabt, Röhrler könne im Polizeiverhör preisgeben, dass es Nadia in doppelter Ausführung gab? Anscheinend nicht. Aber vielleicht hatte Röhrler das auch nicht gewusst. Es war anzunehmen, dass er den Namen Nadia Trenkler bei Herrn Schrag nicht erwähnt hatte. Sonst hätte Herr Schrag keinen Grund gehabt, Susanne Lasko fristlos zu kündigen. Wie auch immer, jetzt waren es schon zwei Jobs, die sie wegen Nadia verloren hatte.
Sie ging wieder hinunter und probierte noch einmal die Kurzwahl mit der Doppelnull. Die auf Französisch schimpfendeFrau war vermutlich Nadias Mutter gewesen. In Genf wurde Französisch gesprochen. Und da hatte sich Jacques laut Poststempel im August vor zwei Jahren aufgehalten. Aber wenn Nadia in Düsseldorf auf die Welt gekommen war, durfte man annehmen, dass ihre Mutter wenigstens ein
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