Die Lüge
war.
«Lass mich vorbei», verlangte sie statt einer Antwort.
Er schüttelte bedächtig den Kopf. «Heute nicht mehr.» Mit dem letzten Wort griff er durchs offene Fenster und drehte den Zündschlüssel um. Der Motor verstummte. Er zog den Schlüssel ab, ging zum Heck. Ehe sie irgendetwas tun konnte, hatte er den Kofferraum geöffnet und etwas herausgenommen.
Sie war augenblicklich neben ihm und sah, wie sein Gesicht die Farbe wechselte. Er wog das abgegriffene Kunstledermäppchen mit ihren Wohnungsschlüsseln in der Hand. DerBlick, mit dem er sie streifte, wirkte nicht mehr müde, spöttisch oder gelangweilt, auch nicht böse. Er wirkte vielmehr wie die Erkenntnis, dass seine allerschlimmste Befürchtung Wahrheit wurde. Ohne ein Wort steckte er das Mäppchen in seine Hosentasche.
Dann widmete er sich der Plastiktüte. Im ersten Moment bemerkte er wohl nur die Fertiggerichte und die Hühnersuppe und lachte verunsichert. «Was soll ich denn davon halten? Du reist aber mit sehr leichtem Gepäck. Willst du Picknick machen?»
Jo stand immer noch an seiner Haustür. Seine Zeichen hatte er inzwischen eingestellt, seine Miene drückte Unverständnis und Bedauern aus. Und jetzt entdeckte Michael den Umschlag, warf einen Blick auf die Beschriftung und schaute ihr ins Gesicht. «Wer ist Susanne Lasko?»
Sie spürte, dass ihr das Blut aus dem Kopf wich, und schwieg.
«Gebühr zahlt Empfänger?», wunderte Michael sich spöttisch. «Dieter Lasko scheint ein sparsamer Mensch zu sein. Oder ist er nur arm geworden?» Mit dem nächsten Satz bekam seine Stimme eine gewisse Schärfe: «Erklärst du mir bitte, was das bedeutet?»
Als sie nicht reagierte, zog er die Ausdrucke aus dem Umschlag. Die kleine Bandkassette rutschte vor und fiel zu Boden. Während er noch hinschaute, hatte sie sich bereits gebückt und zugepackt, ließ die Kassette in der Jackentasche verschwinden und riss ihm den leeren Umschlag aus der Hand. «Gib das her. Es gehört mir.»
«Nein», widersprach er. «Es gehört Susanne Lasko, steht jedenfalls drauf. Wer ist das?»
Sie versuchte, ihm die Ausdrucke und den Autoschlüssel wegzunehmen. Er wehrte ihre Hand ab. «Langsam, Schätzchen. Ich darf doch mal gucken.»
Dann packte er sie beim Arm und rief zu Jo hinüber: «Geh ruhig rein. Hier kannst du nichts mehr retten. Wir werden jetzt eine Kleinigkeit essen und danach ins Bett gehen. Nach der langen Fahrt habe ich mir etwas Schlaf in den Armen der liebenden Gattin verdient. Wer weiß, wie lange ich das noch genießen darf.»
Mit den letzten Worten zerrte er sie in die Garage, weiter in die Diele und routinemäßig zur Alarmanlage. Auf dem Weg verlor seine Stimme den spöttischen Unterton und wurde steinhart. «Nun können wir uns über deine Pläne unterhalten, ohne den armen Jo in Verlegenheit zu bringen.»
Sie dachte nicht daran, sich mit ihm über irgendetwas zu unterhalten, ließ ihn im Garderobenraum stehen und ging in die Küche. Er folgte, bemerkte das benutzte Glas und die leere Saftdose und flüchtete sich zurück in die Ironie. «Das war aber ein eiliger Aufbruch, wenn du weder die Reste deines frugalen Mahls beseitigen noch die Zugbrücke hochziehen konntest.»
Und alles, was ihr einfiel, war, dass sie ihre Mutter nicht besuchen und nicht zurück in ihre Wohnung konnte, wenn er hier blieb und ihr das Schlüsselmäppchen nicht zurückgab. «Du wolltest doch erst morgen …», sagte sie, faltete den leeren Umschlag zu Kleinformat und schob ihn ebenfalls in die Jackentasche.
Er zuckte mit den Achseln. «Noch eine Fehlspekulation. Aber auf eine mehr oder weniger dürfte es kaum ankommen. Als Ilona anrief, dachte ich, ich sollte hier besser mal nach dem Rechten sehen. Sie meinte, du wolltest dich absetzen.»
«Das hat sie missverstanden.»
«Ja, ich weiß», sagte er. «Wir verstehen alle nur miss, wenn es um deine Geschäfte geht. Darf ich erfahren, was dich aus deinem Katerfrühstück gerissen hat?»
Als sie nicht antwortete, widmete er sich den Ausdrucken.Vielleicht hoffte er, darin eine Erklärung zu finden. Sie nahm das Glas vom Tisch, warf die leere Saftdose in den Müll und äugte verstohlen zu ihm hin. Mit dem Autoschlüssel in der Faust blätterte er die Seiten durch. Auf der letzten war ihre lückenhafte Abschrift an mon chéri abgedruckt. Doch so weit blätterte er nicht, zog seine Schlüsse schon vorher. «Lass mich raten. Philipp rief an.»
«Nein, Helga. Sie war nicht dazu gekommen, einzukaufen, und fragte, ob ich ihr etwas
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