Die Lüge
durchdringend schrill eine Sirene los. Die Zwanzig-Sekunden-Frist der Alarmanlage war verstrichen. Dettmer zuckte ebenso zusammen wie sie.
Vor dem Küchenfenster flackerte roter Lichtschein über den dunklen Rasen und die gesamte Straße. Sie hetzte zum Garderobenraum, wischte die Lederjacke zur Seite, sah das rhythmische Blinken eines roten Lämpchens, tippte hastig die Kombination ein. Es heulte und flackerte weiter. «Jetzt stellen Sie doch das verdammte Ding ab», verlangte Dettmer genervt. Er musste schreien, um sich im Lärm verständlich zu machen.
Es ließ sich nicht abstellen – nicht mit den Tastenkombinationen, die ihr bekannt waren. Sie probierte es mit mehreren. Das Heulen kostete sie die letzten Nerven. Schließlich schlug sie mit der Faust gegen den Kasten, brach in Tränen aus und schrie: «Jo! Das Ding spielt wieder verrückt! Warum hilft mir denn niemand?»
Zwei Minuten später war Jo zur Stelle, nicht alarmiert von ihrem Hilfeschrei, nur vom Lärm – wie auch Wolfgang Blasting,Frederik von gegenüber und Elenor Ravatzkys Haushälterin samt dem Sohn. Die beiden spähten nur durch das schmiedeeiserne Tor, auch Frederik ging rasch wieder.
Jo mühte sich erst gar nicht am Kästchen ab. Er stürmte hinauf ins Arbeitszimmer, während Wolfgang Blasting sich mit Dettmer auseinander setzte und erfuhr, dass in der Gerichtsmedizin eine Frau lag, die zu ihren Lebzeiten so ausgesehen hatte wie seine Nachbarin.
Es heulte und flackerte ohne Unterbrechung weiter. Wolfgang Blasting ging ebenfalls hinauf, um zu sehen, warum Jo dem Inferno nicht endlich ein Ende machte. Sie folgte, um zu verhindern, dass er etwas sah, was er nicht sehen sollte. Dettmer folgte ihr. Und Dieter hatte gesagt, sie solle niemanden an den Computer lassen! Jo saß vor dem Monitor, trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Schreibtisch und wartete auf das Ende der Datenübertragung, die er offenbar gestartet hatte. Dann stellte er fest, dass sein gesamtes Security-System zu einem Klümpchen gepackt war und zwei Gigabyte fehlten, um der Anlage wieder den nötigen Raum zu verschaffen und den Alarm abzustellen.
«Was ist denn hier los, Nadia?», erkundigte Jo sich konsterniert. Der Hund in der Diele enthob sie einer Antwort und veranlasste Wolfgang Blasting, ihr wieder nach unten zu folgen. Lilo stand vor der Tür und wollte wissen, was passiert sei. Vor dem Haus fuhr ein Streifenwagen vor.
Schreien konnte sie nicht mehr, nur noch flüstern: «Er bildet sich immer ein, er kann alles. Und dann baut er so einen Mist.»
Lilo bezog die auf Dieter gemünzten Worte auf ihren Mann, führte sie in den Wohnraum, drückte sie in einen Sessel und tröstete: «Beruhige dich, Liebes. Es ist eben ein Prototyp, aber Jo bekommt das in den Griff, da bin ich sicher.»
In der Diele beschwichtigten Dettmer und Wolfgang Blasting gemeinsam die uniformierten Kollegen. Nur ein Fehlalarm, weil Dettmer die Dame des Hauses aufgehalten hatte. Der Streifenwagen fuhr wieder ab. Wolfgang Blasting bot ihr eine Zigarette an und verlangte wie Lilo, sie solle sich beruhigen. Als sie mit flatternden Händen abwinkte, sagte Lilo: «Ich hole ihr ein Valium.»
Jo begab sich auf den Dachboden, endlich kehrte Ruhe ein, auch das rote Flackern erlosch. Lilo kam mit zwei kleinen Pillen zurück, schob ihr beide in den Mund und ließ sie ein halbes Glas Wasser hinterhertrinken. Und Dettmer brachte sein Anliegen noch einmal zur Sprache. Er war nicht mit der Aufklärung von Mordfällen betraut, sondern zuständig für Drogendelikte. Aber er unterhielt sich natürlich mit den Kollegen. Und ein ehemaliger Zechkumpan von Heller, der im Verdacht stand, zumindest Heller umgebracht zu haben, verteidigte sich mit der Behauptung, Heller habe ihm erzählt, es gebe in seiner Nachbarschaft eine Frau in doppelter Ausführung, die krumme Dinger drehe.
Irgendwie war es lächerlich! Zu Anfang kicherte sie auch, doch das war reine Verzweiflung. Ein vorbestraftes, stets und ständig besoffenes Individuum, das ihr etliche Albträume beschert hatte, legte ihr mit seiner dreckigen Phantasie post mortem die Schlinge um den Hals. Aus und vorbei! Jetzt würden sie wohl diesen DN A-Test machen.
Dettmer sprach fast zehn Minuten lang, ohne dass jemand den Versuch machte, ihn zu unterbrechen oder ihm eine Antwort zu geben. Aber er stellte auch keine Fragen, zählte nur auf. Heller hatte in seiner Stammkneipe mehr hinterlassen als den Hinweis auf ein Chamäleon. Mit dem Ausdruck hatte er sie
Weitere Kostenlose Bücher