Die Lüge
für mich spielst.»
«Du bist verrückt.» Mehr fiel ihr dazu nicht ein.
Nadia lachte wieder. «Natürlich, verrückt genug, zu glauben, dass es funktioniert. Reusch hat nicht bemerkt, wen er vor sich hatte. Mit der entsprechenden Vorbereitung sehe ich bei Michael auch kein Risiko. Zeit hast du, und wenn du einverstanden bist …»
Sie war nicht einverstanden. Es war absurd, nicht praktizierbar. Wie immer Nadia sich das vorstellte, eine Fremde als Vertretung an die Seite des Ehemanns zu schicken, es musste an tausend Kleinigkeiten scheitern. Angefangen beim Klang der Stimmen, der in ihren Ohren nicht identisch war, da mochte sie sich noch so viel Mühe geben, Nadias Tonfall nachzuahmen. Ein Mensch bestand doch nicht nur aus Figur und Gesicht. Auch wenn Dr. med. Peter Reusch nicht stutzig geworden war – der hatte sie doch nur kurz angeschaut, ihr ein Fieberthermometer an die Stirn gedrückt, ihren Blutdruck gemessen und ihre Lungen abgehorcht. Nadias Mann dagegen …
«Du musst es natürlich nicht umsonst tun», unterbrach Nadia die sich überschlagenden Gedanken. «Ich bin bereit, mich den Spaß etwas kosten zu lassen.» Mit abschätzendem Blick betrachtete Nadia die ausgetretenen Holzdielen zu ihren Füßen und sagte unvermittelt: «Fünfhundert?!»
Susanne schluckte trocken. Antworten konnte sie nicht.Fünfhundert! Und Nadia hatte von ein- oder zweimal im Monat gesprochen. Bei zweimal wären es tausend! Wenn es tatsächlich funktionieren sollte, müsste sie nicht mehr zur Bank, um ihre Mutter zu bestehlen. Doch die eigene Skepsis, die vielleicht nichts anderes war als Feigheit, Furcht vor etwas, was keinen Namen hatte – vielleicht vor einem starken Willen, der irgendwann zu einem dicken Knüppel greifen wollte, machte sie ganz konfus.
«Für dich ist kein Risiko dabei», behauptete Nadia.
Sie sah auch kein Risiko für sich. Wenn der Schwindel aufflog, wäre das allein Nadias Problem. Ihr konnte nicht mehr passieren, als dass Nadias Mann sie rauswarf. Und dazu konnte es nach Nadias Ansicht nicht kommen, wenn sie sich Mühe gab, natürlich erst, wenn ein paar Äußerlichkeiten verändert waren. Noch war ihr Gesicht zu blass und abgezehrt, ihrer Figur fehlte etwas Speck auf den Rippen. Und ihrer Haut hatten die Stunden auf dem Küchenbalkon und die langen Spaziergänge ein Streifenmuster verpasst. Es ging, wie Nadia betonte, nur um den äußeren Rahmen. Und den ein wenig aufzupolieren käme doch auch ihrer persönlichen Situation zugute.
Nadia blieb bis halb zwölf. Und wie wichtig ihr die Sache war, bewiesen die Zigaretten. Nur vier Stück rauchte sie, und die am offenen Fenster stehend. Asche und Kippen warf sie hinaus auf die Gleise. Mehr als zehnmal klappte sie routinemäßig ihr Etui auf, warf einen entsagungsvollen Blick hinein und klappte es wieder zu, um Susannes Bronchien zu schonen und ihre rasche Genesung nicht zu gefährden.
Schon bei der zweiten Zigarette wurde klar, dass Nadia sich nicht erst seit gestern mit dieser Möglichkeit beschäftigte. Sie hatte alles schon tausendmal durchdacht. Was sie brauchten, waren für das Äußere: ein guter Friseur, der Susannes Mähne auf geschäftsmäßig-salopp trimmte und ihr die nötige, haltbareFarbe verlieh; eine erstklassige Kosmetikerin, die ihr die Tricks beibrachte, die Nadia im Halbschlaf beherrschte; Nadias Parfüm, das dazugehörige Deo und die entsprechende Körperlotion, einen Juwelier, der ihre Ohrläppchen durchstach. Dann müsste sie nur noch ein paar Mal ins Solarium, um eine nahtlose Bräune zu bekommen. Selbstverständlich wollte Nadia für sämtliche Kosten aufkommen.
Dann brauchten sie natürlich auch noch etliche gemeinsame Stunden, die Susanne in die Lage versetzen sollten, Nadias Gestik und Wortwahl zu kopieren, im ehelichen Gespräch Michaels Bemerkungen mit ein paar Standardsätzen zu parieren und diverse Verhaltensmuster zu verinnerlichen. In zwei oder drei intensiven Trainingswochen müsste sie so weit sein, auch einen Mann hinters Licht zu führen, der Nadia seit zehn Jahren kannte und seit sieben mit ihr verheiratet war. Vorausgesetzt, sie ließ ihn nicht zu nahe an sich heran.
«Aber darum kümmere ich mich», versprach Nadia. «Ich sorge dafür, dass dicke Luft herrscht, bevor du in Erscheinung treten musst. Dann geht Michael dir freiwillig aus dem Weg. Es kann überhaupt nichts passieren. Nun sag schon ja.»
Etwas in ihr hatte längst abgeschaltet. Nadias Erklärungen rieselten nur noch auf sie ein wie ein lang
Weitere Kostenlose Bücher