Die Lüge
Sie trug ein Tuch um den Kopf und eine Sonnenbrille, die ihr halbes Gesicht verbarg. Bepackt war sie mit zwei großen Tüten. Aus einer ragten zwei Flaschen Orangensaft.
«Die kannst du gleich wieder mitnehmen», sagte Susanne. «Ich reagiere allergisch auf Zitrusfrüchte, Erdbeeren, gekochte Möhren, auf rohe Möhren seltsamerweise nicht, aber auf Linsen, Sellerie, Äpfel …»
«Nur Nahrungsmittel?», unterbrach Nadia die Aufzählung.
«Nein, Deodorant vertrage ich auch nicht, davon kriege ich Ausschlag.»
«Bekomme ich», verbesserte Nadia und erkundigte sich nach weiteren Abweichungen, die sie bisher nicht berücksichtigt hatte. Sie stellten fest, dass ihre Blutgruppen nicht identisch waren. Darin sah Nadia kein Problem. Außerdem hatte Susanne ein leicht erhabenes Muttermal unterhalb des Nabels. Es war Nadia bereits am Vorabend aufgefallen, und ihre Haut wies keine derartigen Unregelmäßigkeiten auf. Doch ein Problem sah sie auch darin nicht. So nahe, dass er ihren Nabel inspizieren könnte, sollte Susanne Michael ja nicht an sich heranlassen. Für einen flüchtigen Blick reichte es, das Muttermal mit Schminke abzudecken. Andere, derzeit noch verräterische Pigmentierungen wären nach mehreren Besuchen im Solarium kaum noch auffällig, meinte Nadia.
Susannes Schädelbruch könnte man nur auf einer Röntgenaufnahme sehen, die Narbe in der Kopfhaut wurde von Haaren völlig verdeckt. Weitere Narben gab es nicht. Die Zähne waren bei beiden ebenmäßig, noch vollzählig vorhandenund ohne Füllungen, die sich beim Lachen verräterisch auswirken könnten. Nadia kontrollierte alles äußerst gründlich. Finger- und Zehennägel unterschieden sich nur durch ihre Länge. Nadia hielt ihre Nägel etwas kürzer. Mit einer Feile war da leicht Abhilfe zu schaffen.
Dann packte Nadia die prall gefüllten Tüten aus. Außer dem Orangensaft hatte sie Mineralwasser mitgebracht, dazu Feinkostsalate, Toast, Schinken, Eier und Käse, Trauben und Bananen, diverse Kekssorten und andere Süßigkeiten, die eine Gewichtszunahme förderten. Um die Ernährung der nächsten Tage brauchte Susanne sich keine Gedanken zu machen. Und das war noch nicht alles.
Dreimal lief Nadia hin und her zwischen Auto und Wohnung. Zuletzt brachte sie einen Karton voller Kleidung, nicht nur abgelegte Sachen diesmal. Obenauf lag eine Tüte mit der Aufschrift einer Nobelboutique. Dort hatte Nadia sich ihr Alibi für die Stunden mit ihrer Vertretung besorgt, außerdem hatte sie in doppelter Ausführung eingekauft. Zwei sandfarbene Kostüme mit farblich dazu passenden Blusen, zwei Paar identische Pumps und vier Garnituren Unterwäsche. Susanne fasste es nicht. Nadia war bereits mitten in den Vorbereitungen und wie ein Kind, für das ein lange gehegter Wunsch in Erfüllung ging, von einer überdrehten Fröhlichkeit. «Hast du gefrühstückt?»
Hatte sie nicht. Nadia kümmerte sich sofort darum, brühte Kaffee auf, röstete Toastscheiben, kochte Eier und erkundigte sich dabei nach dem Mann, der ihr im Treppenhaus begegnet war und sie angeglotzt hatte, als käme sie vom Mars. Der Beschreibung nach konnte es sich nur um Heller handeln. Natürlich hatte er Nadia angepöbelt. Aus der Wahl seiner Worte zog sie nun die Vermutung, dass Susanne ein Verhältnis mit ihm hätte.
«Sehe ich aus, als hätte ich es so nötig?», protestierte sie.
Nadia lächelte flüchtig. «Du bist seit drei Jahren geschieden. Und frisch geduscht ist er wahrscheinlich nicht so übel.»
«Mir reicht Richard Gere völlig», sagte sie und bedankte sich noch einmal für alles.
Nadia wehrte ab. «Lass nur, du kannst dir nicht vorstellen, was es für mich bedeutet.»
Das konnte sie tatsächlich nicht. Ihr war während ihrer Ehe mit Dieter immer klar gewesen, dass er im Ausland nicht lebte wie ein Mönch. Bewusst darüber nachgedacht hatte sie nicht. Und auf den Gedanken, sich ebenfalls jemanden für einsame Stunden zu suchen, war sie nie gekommen. Keine Zeit, keine Gelegenheit, kein Verlangen. Eine pflegebedürftige Schwiegermutter schraubte die Libido auf null herunter. Schwamm drüber. Es war vorbei und sie daran gewöhnt, ohne Mann auszukommen.
Nadia verstaute die neue Garderobe im Kleiderschrank. Dann besprachen sie, wer was regelte, wenn Susanne sich erholt hatte. Nadia fehlte die Zeit, sich um alles zu kümmern. Um Fahrschule und Kosmetikerin sollte Susanne sich selbst bemühen. Nur den Friseur wollte Nadia übernehmen. Sie vermutete, Susannes neuer Haarschnitt sei das Werk eines
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